SakralobjekteChristus in der Rast - St. Johanniskirche Neubrandenburg
Im Spätmittelalter entstanden spezielle Andachtsbildnisse, die den leidenden Christus während der Passion darstellen. Neu dabei war das Motiv der Einzelfigur, mit der man die komplexe Szenerie der Bibelerzählung auflöste. Der Gläubige konnte nun direkt, ohne Ablenkung, mit dem Heiland in Kontakt treten. Die frühe christliche Bildkunst entwickelte zwei Haupttypen, die Christus als Ecce homo nach der Geißelung mit der Dornenkrone oder als Schmerzensmann mit den Kreuzigungswunden zeigen. Gegenüber ursprünglichen Deutungen, die in Christus den strahlenden Sieger über Sünde und Tod sahen, konzentrierte man sich jetzt auf den Leidenden, der gleichermaßen Barmherzigkeit erweckte sowie Trost spendete.
Die Neubrandenburger Skulptur Christus in der Rast zählt zum Eccehomo-Bildtypus. Das hauptsächlich in Deutschland beliebte Motiv bezieht sich auf Jesu Verhandlung vor dem römischen Statthalter Pilatus, der ihn laut der lateinischen Bibel (Johannes 19,5) dem Volk mit dem Ausruf „Ecce homo“ öffentlich vorführte. Luther übersetzte die Stelle mit „Sehet, welch ein Mensch“. Der rastende Christus verkörpert allgemein einen weitläufiger gedachten religiösen Sinngehalt. Er umfasst den Passionsabschnitt von der Geißelung bis zur Ankunft am Kreuzigungsort. Der von Gottes Sohn ertragene Schmerz sollte den Verzweifelten - besonders während der Pestzeit - beispielgebend helfen, das schwere Los zu ertragen.
Die menschliche Geste, den Kopf ermattet mit der Hand zu stützen, ist seit alters her eine gebräuchliche Trauergebärde. Die volksnahe Verbreitung des ausdrucksstarken Christusbildes unterstützten auch die Franziskaner, die sich der Nachahmung Jesu verschrieben hatten. Dieser Sichtweise folgten auch die Brüder des Neubrandenburger Konventes. Sie erwarben ihren Christus in der Rast gegen Ende des 15. Jahrhundert. Typisch für viele Skulpturen dieser Art ist ihre qualitativ schlichte Ausführung. Vermutlich wurden sie aufgrund der hohen Nachfrage in regionalen Werkstätten gefertigt. Eine unsichere Umsetzung der angestrebten Geste muss auch dem Schnitzer unseres Werkes bescheinigt werden. Der begrenzte Durchmesser des verwendeten Lindenholzstammes verhinderte die Beugung des schmerzerfüllten Körpers und damit die charakteristische Stützhaltung des rechten Armes auf dem Oberschenkel. Wegen der eigentümlichen Haltung wirkt der Korpus Christi steif, ja sogar unnatürlich. Die 80 cm hohe Skulptur trägt noch Reste der originalen Farbfassung. Den nackten Körper bedeckt ein Lendentuch von einst blauer Färbung. Blau ist neben Rot eine der kennzeichnenden Christus-farben, sie verweist auf die göttliche Offenbarung. Der Leib des Rastenden ist weiß gehalten, so dass sich die vom Haupt bis zu den Füßen laufenden Blutstropfen markant abzeichnen. Christus, der eine aus zwei Ranken geflochtene Dornenkrone trägt, sitzt auf einem felsenartigen Hügel, der sinnbildlich den Kalvarienberg darstellt. Dement-sprechend bezeichnet das Bildnis den Zeitpunkt kurz vor der Kreuzigung. Symbolisch kündigen die über Kreuz geschlagenen Beine die bevorstehende Hinrichtung an.
Das leidvolle Erscheinungsbild Christi, gepaart mit der biblischen Botschaft, berührte und bot den nach Erlösung Suchenden eine tiefe Einkehr für die persönliche Andacht. Verstärkt wurde der mystische Vorgang durch die auf den Betrachter gerichtete Blickrichtung des Gepeinigten. Das in der Regel vollplastisch ausgeführte Sakralwerk zählt daher, neben dem Motiv des Weltenrichters, zu den bedeutendsten Sitzbildern in der christlichen Glaubenswelt.
Bild: Die 1878 vom Neubrandenburger Museumsverein erworbene Figur ist fachgerecht restauriert im Nordflügel des ehemaligen Neubrandenburger Franziskanerklosters ausgestellt.
Text: Rainer Szczesiak, Roga
Foto: Ralf Bruse, Regionalmuseum Neubrandenburg