1945: Suizid in Demmin "Eine Selbstmordwelle ohne Beispiel"

Von Nicole Kiesewetter

30.04.2015 · Demmin. In den letzten Kriegsmonaten bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 brandete eine beispiellose Suizidwelle durch Deutschland. Wo die Rote Armee vorrückte, nahmen sich Tausende das Leben. Besonders dramatisch war es im vorpommerschen Demmin.

Als das Deutsche Reich im Frühling 1945 zusammenbrach, töteten zahlreiche NS-Größen sich selbst - darunter Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler. Aber nicht nur die Elite suchte den Tod. Selbstmord wurde in den letzten Kriegsmonaten zu einem Massenphänomen - vor allem in den Gebieten östlich der Elbe. Besonders schlimm traf es das vorpommersche Demmin.

Die auf einer Halbinsel gelegene Kleinstadt lag abgeschnitten, nachdem die Wehrmacht bei ihrem Rückzug aus Vorpommern die Brücken über die kleine Flüsse Peene, Trebel und Tollense zerstört hatte. Als die Sowjetarmee den Ort Demmin am 30. April und 1. Mai einnahm, brach Panik unter den Bewohnern aus. Innerhalb von drei Tagen töteten sich Hunderte selbst: Einheimische und Flüchtlinge, Männer und Frauen, Alte und Junge. Die Menschen gingen ins Wasser, erhängten sich am Dachbalken oder griffen zur Pistole.

Der Historiker Florian Huber schildert die Hintergründe der Tragödie in seinem Buch "Kind, versprich mir, dass Du Dich erschießt". Auf der Grundlage von Tagebüchern, Erinnerungen und Berichten rollt er ein bisher unerzähltes und verdrängtes Kapitel deutscher Zeitgeschichte auf. Einen Grund für die "Selbstmordwelle ohne Beispiel" sieht Huber in der konkret erlebten Gewalt. "Es war bekannt, dass die Rote Armee bei ihrem Einmarsch mit großer Brutalität vorging." Es gab Plünderungen, Vergewaltigungen und willkürliche Erschießungen, die die Menschen nicht verkraften konnten.

Zudem hatte die NS-Propaganda über Monate die Angst vor den sowjetischen Soldaten geschürt, die nach Hubers Einschätzung zu einer Art Massenhysterie führte. "Viele warteten den Einmarsch gar nicht erst ab, sondern suchten schon vorher einen Ausweg im Tod - ein 'Vorwegnehmen des Alptraumes'." Darüber hinaus, so der 1967 in Nürnberg geborene Huber, war sich ein Großteil der Deutschen kurz vor dem Kriegsende "durchaus der Schuld bewusst, die das Land auf sich geladen hatte".

Mit der sich abzeichnenden Niederlage fürchteten viele die Vergeltung. "Oder sie konnten den Zusammenbruch ihres Weltbildes nicht ertragen und wollten der ideologischen Leere entfliehen, die sie nun erwartete." 21 Selbstmorde am 30. April bildeten den Auftakt für Hunderte Suizide bis zum 3. Mai. Unter dem Titel "Schwierige Erinnerung. Das Kriegsende in Demmin 1945" wird am Donnerstag (30. April) eine gemeinsame Veranstaltung der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und der Hansestadt Demmin an die Ereignisse erinnern. Auch Florian Huber wird zu Gast sein.

Die "Angst vor dem Nichts" ist für ihn eine Erklärung dafür, dass es Selbstmorde nicht nur an den Frontlinien und im Osten Deutschlands gab, sondern auch in anderen Teilen des Landes. "Es waren nicht nur hochrangige Nazis, sondern ganz normale Menschen, die mit dem Untergang nicht zurechtkamen." Das Thema der Massenselbstmorde ist nach Hubers Einschätzung bisher nahezu unbekannt, weil es nie in das Bewusstsein der Menschen vorgedrungen sei.

"Es passt nicht in die Form hinein, wie wir in den letzten Jahrzehnten Geschichte aufgearbeitet haben. Die Demminer sind doch weder Täter noch Opfer - wo bringen wir die unter? Die blieben im toten Winkel". Für die Recherchen zu seinem Buch hat Huber kaum Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Die wenigen, die es überhaupt noch gibt, wollten nicht reden. "Wie soll ein Kind es auch verarbeiten, wenn die Mutter die eigene Familie umbringen will und man selbst nur durch Zufall überlebt hat?" In Demmin, sagt Huber, begann der Krieg, als er eigentlich zu Ende war.

Quelle: epd