Professor Michael Herbst über die Krise der evangelischen Kirche "Pastorenfixierung ist der Tod"

Von Sybille Marx

Experte für Mission: Professor Michael Herbst. Beim internationalen Kongress zur „Zukunft der Kirche in Europa“, der kürzlich in Greifswald stattfand, hatte er das letzte Wort – den Abschlussvortrag.

Foto: Sybille Marx

21.06.2015 · Greifswald. Fünf Millionen Mitglieder hat die Evangelische Kirche in Deutschland seit 1991 verloren, sie schrumpft weiter, sie wird kleiner, älter, bald auch ärmer – und kein missionarischer Erfolg wird diesen Prozess stoppen, sagte der Greifswalder Theologe und Missionsexperte Professor Michael Herbst vor Kurzem in Greifswald.

„Das ist schon wegen der demographischen Entwicklung nicht möglich.“ Für Herbst ist darum klar: Jetzt hilft nur noch beten. Nein, nicht nur, aber auch. Auf einer internationalen Tagung zur „Zukunft der Kirche in Europa“, die rund 80 Theologen aus dem In- und Ausland in Greifswald versammelte, beschrieb Herbst die Kirche im Norden und Westen Europas als krank und erschöpft – und riet ihr zu einer „Kombinationskur“, darunter der Wiederentdeckung des Gebets. Denn geistliche Erneuerung, die „Ergriffenheit von der Liebe Gottes“ sei das Entscheidende, aber genau das könne man nicht selbst in Gang bringen. „Wir können uns nur ausstrecken, umkehren, bitten, rufen. Das aber sollten wir auch tun.“

Herbst leitet das deutschlandweit einzige Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald, seit rund 20 Jahren beschäftigt er sich genau mit diesem Thema: wie wird die Zukunft der Kirche aussehen, wo gelingt Mission, welche Faktoren helfen oder stören?

Gleich zu Beginn verordnete er die bittere Pille der Erkenntnis: Kirchenleitende müssten endlich einsehen, dass die Volkskirche in Nord- und Westeuropa zur Minderheitenkirche werde, Privilegien und Reichtum verliere – wie es in Ostdeutschland, Tschechien und Estland nach Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft längst der Fall sei. Viel zu lange habe sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) damit getröstet, dass die Masse der Deutschen dem Christentum zwar etwas distanziert, aber positiv gegenüberstehe, etwa in der Haltung: Wahrscheinlich gibt es Gott und sicher freut er sich, wenn wir anständig leben. Menschen mit diesem „milden Luthertum“ vererbten den Glauben aber nicht an ihre Kinder weiter, erklärte Herbst. Und wer ihnen mit niedrigschwelligen Angeboten entgegen komme, bestärke sie nur in ihrer Gleichgültigkeit. Christen müssten vielmehr so leben und reden, dass die Gleichgültigen begeistert und mitgerissen würden.

„Christentum wie Betreutes Wohnen“

Aber Halt: Auf jedes „müssten“ reagieren Pastoren aus dem ländlichen Norden leicht allergisch, das weiß Herbst nach über 20 Jahren in seinem Experimentierfeld Vorpommern nur zu gut. Er könne diese Abwehr auch verstehen, sagt er: Die Pastoren seien überlastet. In der Theorie wisse die Kirche zwar um die „Mündigkeit der Gemeinde“, in der Praxis betrachte sie Gemeinden immer noch als Versorgte, die Pfarrer als Versorger. Zig Kirchen müssten sie sanieren, renovieren, finanzieren, nebenbei das Christentum in immer größeren Gemeindegebieten organisieren wie Betreutes Wohnen. Folge: „Alle leiden: das Leben im Pfarrberuf wird mehr und mehr belastet, die Gemeinden lernen ihre eigene Begabung und Vollmacht nicht kennen.“ An dieser Krankheit könne das Kirchentum sterben, warnt Herbst.

Zur Kur, die er empfiehlt, gehört daher auch: Das Priestertum aller Gläubigen muss endlich im Alltag ankommen. Die theologische Ausbildung sei daran anzupassen, Gemeinden sollten anfangen, bei jeder Aktion zu fragen, wer was übernehmen kann und will. Haupt- oder ehrenamtliche Kuratoren könnten sich um die Gebäude kümmern. Und die Kirchenleitung müsste Gemeinden beibringen, Gottesdienste auch ohne Pastor zu feiern – mit ausgebildetem Laienprediger oder in einer Form, die auf eine Predigt verzichtet. „In einigen Regionen hat man damit schon gute Erfahrungen gemacht“, erklärt Herbst.

Das große Schrumpfen wird man damit zwar nicht aufhalten, sagt er. Aber die Kirche könnte lernen, als Minderheit am Rand weiter aktiv zu sein. Auch kleine Gemeinschaften könnten durch ihre Integrität und praktische Liebe auffallen und die Ergriffenheit von Gottes Liebe wie einen Virus verbreiten, glaubt Michael Herbst. Den Leitenden empfiehlt er daher: Nutzt die Jahre, in denen die Kirchensteuer noch ordentlich fließt, nehmt mutig Geld für missionarische Projekte und Gruppen in die Hand, fördert alles, was als lebendige Christen-Gemeinschaft zu erkennen ist! Bisher, sagt Herbst, erinnere ihn seine Kirche eher an den Knecht, der das anvertraute Pfund im Boden vergräbt.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 25/2015