Pastor Matthias Tuve geht in den Ruhestand "Ökumene ist eine Lehrstunde der Vielfalt“
16.08.2020 · Greifswald. Am heutigen Sonntag wurde Pastor Matthias Tuve im Greifswalder Dom in den Ruhestand verabschiedet. In den vergangenen zehn Jahren arbeitete er als Ökumenepastor im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis. Zuvor war er als Gemeindepastor tätig. Als Organisator etablierte er die Ökumenischen Kirchentage und war neun Jahre Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK).
„Ich bin seit Wochen nur noch am Aufräumen, so ordentlich war’s darum hier noch nie“, sagt Pastor Matthias Tuve schmunzelnd zur Begrüßung, während er den Blick durch sein Büro im Greifswalder Regionalzentrum am Karl-Marx-Platz schweifen lässt. Normalerweise hatte hier in den zurückliegenden Jahren stets ein kreatives Durcheinander geherrscht, stapelten sich Unterlagen und Flyer, Material für all die Planungen, Vorbereitungen und die Organisation von Reisen zu den Partnerkirchen in aller Welt, für die Ökumenischen Kirchentage, für zahllose Sitzungen und Besprechungen… Doch nun, wenige Tage vor dem Ruhestand am 1. September ist alles aufgeräumt, sortiert und vorbereitet für den Nachfolger oder die Nachfolgerin in der Ökumenischen Arbeitsstelle des Pommerschen Evangelischen Kirchenkreises. „Ich will ja alles geordnet hinterlassen“, kommentiert er lapidar und vielleicht klingt da auch ein wenig Abschiedsschmerz mit.
Arbeit mit großer Gestaltungsfreiheit
„Das Schönste war die Arbeit mit den Menschen aus Pommern und aus aller Welt“, sagt Matthias Tuve im Rückblick. „Zu sehen und zu erleben, wie Netzwerke entstehen, die geistliche Gemeinschaft zu spüren, das war eine ganz große Freude. Und die Arbeit brachte auch eine große Gestaltungsfreiheit mit sich.“ Die Ökumenische Arbeitsstelle habe dabei vor allem auf drei Säulen gestanden, zählt er auf: Entwicklung der Beziehungen zu den fünf Partnerkirchen, Arbeit mit der ACK M-V, der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Mecklenburg-Vorpommern, und die Organisation der Ökumenischen Kirchentage. Als einen der zahlreichen Höhepunkte in seiner Zeit als Ökumenepastor bezeichnet Matthias Tuve die von ihm im September 2015 mit organisierte und betreute Partnerkirchenkonsultation der Nordkirche. Damals waren internationale Gäste aus Kasachstan, Brasilien, Indien, England, Estland und von den Philippinen im pommerschen Kirchenkreis unterwegs.
Intensive Zeiten der Begegnungen
Aber nicht nur die Besuche von Gästen, auch seine eigenen unzähligen Reisen zu den Partnerkirchen in den zurückliegenden Jahren mit verschiedenen Gruppen aus Pommern und der Nordkirche seien prägende Erfahrungen gewesen. „Da kam ich manchmal aber auch an meine Grenzen, tagsüber waren wir unterwegs, nachts haben wir den Internetblog für kirche-mv.de gestaltet.“ Das seien immer sehr intensive Zeiten gewesen, voller Begegnungen und neuer Erkenntnisse. Auf einer seiner vielen Touren bei den Partnerkirchen in Afrika, erlebte Matthias Tuve während einer Busfahrt ein Gespräch zum Thema Homosexualität. Er erinnert sich, wie da extrem unterschiedliche Ansichten ausgetauscht, niemand von einer anderen Meinung überzeugt wurde, doch „das Zuhören und das Aushalten der kontroversen Positionen in einer Runde, das Zusammenbleiben, das im Gespräch bleiben trotz ungelöster Fragen war ein Schritt nach vorn.“ Das bedeute auch Ökumene für ihn. Das funktioniere ähnlich wie in einer Familie, die irgendwie trotz Meinungsverschiedenheiten zusammenhält.
Kirchen gingen aufeinander zu
In der ACK hatte er es auch mit verschiedenen Positionen zu tun. „Ich weiß noch, dass den Vorsitz der ACK eigentlich niemand übernehmen wollte. Schließlich habe ich gesagt, dann mach ich das eben, aber ich reiße mir kein Bein aus, ich habe schon genug zu tun.“ Er lacht über diese Erinnerung. Vor allem, weil es dann ganz anders kam, denn die Arbeit der ACK war spannend und lebendig. „Es entwickelte sich einfach. Jedes Jahr sind wir zu einer Klausur unterwegs gewesen, oft in Binz, dann Hamburg und Berlin. Ich habe in der ACK so viele tolle Leute kennengelernt. Und es hat sich in den Jahren viel geändert. Mit der Neuapostolischen Kirche 2016 und dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden 2018 gab es Neuzugänge, die früher nicht denkbar gewesen wären. Jetzt sind die Gespräche mit dem Netzwerk der charismatischen Gemeinden vor dem Abschluss. Ich habe durch die Kontakte und Erlebnisse, durch die Gespräche in der ACK unheimlich viel gelernt.“ Ökumene mit ihren unterschiedlichen Meinungen und Positionen sei eben vor allem eine Lehrstunde der Vielfalt, ist Matthias Tuve überzeugt.
Mitstreitende anstecken und mitreißen
Die Idee zu den ökumenischen Kirchentagen in Pommern, kurz ÖKT, war schon entstanden bevor Matthias Tuve 2010 Ökumenepastor wurde. Den Impuls dazu hatte der damalige katholische Propst Michael Pietrus gegeben. Vorbild war der bundesweite Ökumenische Kirchentag. „Als Ökumenepastor kam mir dann die Aufgabe zu, den ÖKT gemeinsam mit vielen anderen zu planen, ich wurde Motor und Organisator“, sagt Matthias Tuve. Der erste ÖKT fand 2011 in Greifswald statt, 2014 folgte Stralsund, 2017 der dritte ÖKT wiederum in Greifswald. Der vierte ÖKT hätte eigentlich am 6. Juni in Pasewalk stattfinden sollen, musste jedoch wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. „Die größte Freude und die größte Motivation bei der Organisation der ÖKT war für mich, mitanzusehen, wie das Feuer der Begeisterung immer weitergeht, wie sich Mitstreitende anstecken und mitreißen lassen.“
Vollbremsung kurz vor der Ziellinie
„Als wir vor dem ersten ÖKT 2011 überlegt haben, wie viele Leute wohl kommen, haben wir dann auf gut Glück einfach 2.000 Sitzgelegenheiten hingestellt und es wurde voll! Und in diesen Größenordnungen blieb es bei allen ÖKT.“ Das sei vor allem angesichts der ausgedünnten Region ein großer Erfolg, meint er. Bei den Vorbereitungen und der Umsetzung der ÖKT sei für ihn stets wichtig gewesen, die Perspektiven möglichst aller Beteiligten einzubinden. So hätte es auch in diesem Jahr beim vierten ÖKT in Pasewalk sein sollen. Die Stadt ist deutlich kleiner als Greifswald und Stralsund und zudem eher in einer Randlage. „Das wäre noch einmal eine ganz andere Herausforderung geworden“, ist sich Matthias Tuve sicher. „Aber gerade auch in diesen Zeiten des Schwunds sollte es ein ganz starkes Signal werden. Wir hatten die Vorbereitungen fast abgeschlossen, vor allem die polnischen Partner ganz stark eingebunden, das Programm stand, alle Flyer waren gedruckt und dann kam der furchtbare März…“ Matthias Tuve macht eine kurze Pause, als er das erzählt. „Das war wie eine Vollbremsung kurz vor der Ziellinie. In einer Videokonferenz mit 15 Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe haben wir Ende März einstimmig beschlossen, den ÖKT abzusagen. Das war bitter. Aber es war mit Sicherheit eine der schönsten Veranstaltungen, die nicht stattgefunden hat“, sagt er mit seinem für ihn typischen Humor. Das Motto hatte „Vor dir eine Tür“ gelautet, die dann aber dieses Mal geschlossen blieb. „Es läuft eben nicht immer so, wie wir es planen.“
Von der Mathematik zur Theologie
Geboren wurde Matthias Tuve 1957 in Nordhausen. Mit seiner Schwester wuchs er in einer Pfarrersfamilie auf. „Von 1960 bis 1970 war mein Vater Pastor im thüringischen Kölleda. Das Pfarrhaus hatte einen wunderbaren Garten. Das war mein Kindheitsparadies.“ 1970 wechselte der Vater nach Rastenberg, im benachbarten Buttstädt machte Matthias Tuve 1975 das Abitur. „Die Zulassung zur EOS stand auf der Kippe, da ich nicht in der FDJ war.“ Ein Gespräch des Kreisschulrats mit dem Vater ebnete den Weg. Der Vater hatte durchblicken lassen, dass er entschieden habe, dass sein Sohn nicht in der FDJ sei. Wie der Sohn sich später entscheide, darauf hätte er als Vater dann keinen Einfluss mehr. „Die dachten wohl, dass sie mich drehen können.“ Zudem hatte Matthias Tuve als Wunschstudium Mathematik angegeben, was den Verantwortlichen wohl reizvoll erschien. Die Mathematik begeisterte ihn tatsächlich – an Zahlenkolonnen und Tabellen hat er noch heute Freude – doch in der elften Klasse änderte sich der Berufswunsch. „Ich schwenkte auf Theologie um, was in der Schule auf völliges Unverständnis traf.“ Ausschlaggebend für den Sinneswandel seien die Erlebnisse in der kirchlichen Jugendarbeit gewesen, vor allem die Rüstzeiten. „Und ich war begeistert von den Predigten meines Vaters. Da konnte ich hören, sehen, spüren, was für eine Kraft im Evangelium steckt. Das hat mich tief angerührt.“
Einschneidendes Erlebnis beim Militär
Vor dem Studium stand Matthias Tuve jedoch noch ein für ihn einschneidendes Erlebnis bevor. „Ich hatte mir als Schüler gar keine Gedanken darüber gemacht, ob ich meine Armeezeit regulär ableiste oder wie viele andere Christen in der DDR zu den Bausoldaten gehen soll. Ich hatte das irgendwie gar nicht zu Ende gedacht und bin dann ganz normal zur NVA gegangen. Aber das hat mich dann so umgehauen, dass ich nach vier Wochen in die Nervenklinik kam.“ Den Zusammenbruch glaubte ihm von den Vorgesetzten zunächst keiner. „Die dachten, ich mache das nur, um da rauszukommen.“ Doch der Kollaps war echt. „Die Armee war der völlige Gegensatz zu meinem bisherigen Leben. Ich hatte an Freiheit ziemlich alles genossen, was damals möglich war. Ich bin zum Beispiel 1975 als Anhalter 7.000 Kilometer durch die DDR gereist und habe darüber Tagebuch geführt. Und dann kam der ‚Lock down‘ NVA. Eingesperrt zu sein wie im Knast, jeden Morgen mit Angst aufzuwachen, die pure Verzweiflung, das hat mich fertig gemacht.“
„Am nächsten Tag stand die Stasi vor der Tür“
Die für ihn unerträgliche Situation in der Kaserne führte ihn an den Rand des Suizids, von dem ihn andere Soldaten abhielten. Ein halbes Jahr später wurde er ausgemustert. Letztlich sei gerade diese Zeit, die ihn fast zum Äußersten gebracht hatte, dennoch eine wichtige Erfahrung gewesen, auch für den späteren Beruf, sagt Matthias Tuve heute darüber. „Aber ich war unendlich froh, da wieder raus zu sein.“ In Jena begann er 1976 mit dem Theologiestudium. Es war die Phase in der DDR, in der sich die Bürgerbewegung zu formieren begann, in der sich Pastor Oskar Brüsewitz aus Protest gegen das Regime selbst verbrannte und der Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert wurde. „Wir Studenten haben in der JG Stadtmitte einen Aufruf unterschrieben. Am nächsten Tag stand die Stasi beim Leiter der Jungen Gemeinde vor der Tür. Der kam in den Knast, nach einem Jahr Ausreise in den Westen. Uns war gar nicht klar, was wir riskiert hatten. Da hätte mein Studium schon vorbei sein können.“ Doch die Staatsmacht beließ es dabei. „Viele Jahre später habe ich den Zettel mit dem Aufruf und meiner Unterschrift dann in einer Ausstellung im Regionalzentrum entdeckt.“
Anfang in Greifswalder Christusgemeinde
Frisch verheiratet ging es für Matthias Tuve während des Studiums „von links unten nach rechts oben, also von Jena nach Greifswald. Ich wollte unbedingt auch mal die Uni wechseln und das war der weiteste Wechsel, der in der DDR möglich war.“ 1983 nach dem zweiten Examen übernahm Matthias Tuve zusammen mit seiner Frau, die ebenfalls Pastorin war, die im Aufbau befindliche Christusgemeinde im Greifswalder Neubaugebiet. „Wir mussten viel kämpfen, aber es lohnte sich, es war eine tolle Gemeinde, eine wunderbare Arbeit. Die Kirche war voll, es gab viele junge Leute.“ Noch heute leuchten seine Augen, wenn er von dieser Aufbruchszeit erzählt. Die erste Gemeinde sei eben wie die erste Liebe, das bleibe immer etwas Besonderes, meint er.
Ein Jahr im Wartestand
1991 kamen ganz neue Herausforderungen: Die Kirchengemeinde übernahm die gegenüberliegende Kita, baute das Gebäude 1993 um, im selben Jahr wurde er amtierender Superintendent. Dazu kamen private Probleme. Es wurde nach dem Erlebnis bei der NVA der zweite Moment in seinem Leben, an dem er zeitweise nicht mehr weiter wusste. „1994 habe ich die Reißleine gezogen, es war ein schwerer Schritt“, beschreibt er diesen beruflichen und privaten Einschnitt. Trennung, eine neue Beziehung. Scheidung. „Ich war ein Jahr lang im Wartestand. Ich musste erkennen, dass die Welt nicht nur aus heilen Beziehungen besteht, aber Gott uns auch nach unseren Fehlern und mit all unseren Schwächen wieder auf den Weg setzt. Das ganze Leben ist ein Weg, auf dem es immer wieder Kurskorrekturen, Brüche, Krisen gibt. Und die Chance, neu zu beginnen. Das erlebe ich bis heute so.“
Neue Möglichkeiten in ländlicher Gemeinde
Ein neuer Weg eröffnete sich für Matthias Tuve ab 1996 als Gemeindepastor in Brüssow. „Diese ländliche Gemeinde war ganz anders und bot andere Möglichkeiten und Herausforderungen“, beschreibt er den Neuanfang. Sehr viel wurde gebaut an den am Ende 11 Kirchen des Pfarrsprengels – und viel gefeiert, mit dem Chor, dem Seniorenkreis, der Gemeinde, Himmelfahrt gab es große Gemeindeausflüge, Heiligabend ein Singspiel, einstudiert von der Kantorin Uschi Tuve, mit der er seit 1996 verheiratet ist. Die Bläserarbeit wurde in Brüssow wie in Greifswald ein wichtiges Standbein der Gemeindearbeit. Im Kirchenkreis Pasewalk war Tuve Bläserbeauftragter und dirigierte zehn Jahre lang die Pasewalker Bläsermusik im Kerzenschein am 1. Advent. Doch dann wurde ein weiterer Wechsel unausweichlich.
Unverhoffter Wechsel in die Ökumene-Arbeitsstelle
„Meine jüngste Tochter hat das Down-Syndrom. Sie ist immer integriert aufgewachsen, im Kindergarten, in der Schule, mit den ganz normalen Kindern, doch ab der 7. Klasse wäre das in der Region nicht mehr möglich gewesen. Wir haben uns dann die Greifswalder Martinschule angesehen und waren sofort begeistert.“ Also ging es im Jahr 2009 zurück nach Greifswald. „Ich bin damals zu Bischof Abromeit gegangen und habe gesagt, ich brauche eine neue Arbeit.“ So kam Matthias Tuve zur Ökumene-Arbeitsstelle, zunächst mit 50 Prozent und in Verbindung mit der halben Stelle in der Studentengemeinde, dann ab 2013 in Vollzeit. Und obwohl er eher zufällig in diese Position gekommen war, machte er sie sich völlig zu Eigen und gab der Ökumene seine ganze Energie und Profil. Es wurde dann die prägende Aufgabe seines beruflichen Lebens. Das illustriert auch eine Anekdote, die Matthias Tuve erzählt: „Mir wurde mal von einem Gespräch berichtet, in dem jemand über mich gesagt hat, früher war der evangelisch, jetzt ist er ökumenisch. Ich musste lachen, als ich das hörte. Aber ein Körnchen Wahrheit ist dabei.“
„Wenn etwas fällt, dann wächst etwas Neues“
Und was kommt im Ruhestand? „Ich freue mich an meiner Patchworkfamilie – mit sieben Kindern und seit vorletzter Woche sogar acht Enkelkindern! Dafür habe ich nun endlich mehr Zeit! Und für unseren schönen Garten!“ Und sonst? „Ich habe keinen Plan, das ist für mich ein weites, freies Feld. Aber ich will auch gar keinen Plan und das einfach mal aushalten. Ich werde sehen, was auf mich zukommt.“ Auch in seinem Arbeitsleben habe sich immer vieles fast wie von selbst ergeben und ist so schließlich genau richtig gewesen. Auch dazu fällt Matthias Tuve wie so oft eine passende Geschichte ein. Er erzählt von einem Baum am Rande seines Grundstücks in seinem Wohnort Behrenhoff, wenige Kilometer südlich von Greifswald. Dort musste ein Baum aus Sicherheitsgründen gefällt werden. Er hatte immer Schatten gespendet und es war zunächst ein Verlust, doch sein Fehlen ermöglichte dann plötzlich ganz neue Sichtachsen und ließ Platz entstehen. Und so verhalte es sich auch mit den Lebensphasen. „Wenn etwas fällt, dann wächst etwas Neues.“
Quelle: PEK (sk)