Kunst und Kirche Wal im Greifswalder Dom gestrandet
Von Annette Klinkhardt
01.08.2021 · Greifswald. Gil Shachar träumte. Und im Traum sah er einen Wal, einen riesigen, gestrandeten Wal, und er machte einen Abguss davon. Und als er aufwachte, wusste er, dass das gut war und zeichnete sofort eine Skizze.
Sechs Jahre nach diesem Traum liegt ein 14 Meter langer und neun Meter breiter Wal im Greifswalder Dom St. Nikolai. „GreifsWALder Resonanzen“ heißt die Kunstaktion der Bonner Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft, die Gil Shachars Wal nach Greifswald gebracht hat. Der Bildhauer aus Tel Aviv kam mit einem Stipendium vor 25 Jahren nach Duisburg, wo er seitdem lebt. „Ich mache hauptsächlich Abgüsse, das ist mein Medium, manchmal auch mit Objekten kombiniert. Das sind das sind Abgüsse vom Leben - von Objekten oder Menschen. Ich modelliere nicht, ich mache lebensgroße Abgüsse“, erzählt der Künstler, der zwei Tage lang mit Studierenden des Greifswalder Caspar David Friedrich Instituts und Mitarbeiterinnen der Bonner Montag Stiftung seinen Wal im Greifswalder Dom zusammengebaut hat.
Der besteht aus fünf Teilen, und immer wieder stecken der Künstler oder die jungen Leute im dunklen Bauch des Wals, um von innen zu schrauben oder zu verhaken. „Durch das Material kommt ein bisschen Licht durch an den Stellen, die dünner sind, und ein Freund meinte einmal, das sieht aus wie ein Himmelsbild, wie Sterne. Das war eine schöne Idee. Wenn man im Wal drin sitzt, sieht man den Himmel.“ erzählt der 56-jährige Künstler und fügt hinzu: „Aber das ist auch Arbeit, das Schrauben, und ist sehr warm da drin.“
Was so schwer aussieht, ist ein relativ leichter in Epoxidharz gegossener Abguss von einem toten Buckelwal. Gil Shachar: „Natürlich ist das auch ein Thema, das präsent ist - der Wal ist tot. Das ist also kein Modell aus einem 3D-Drucker, sondern mir war ganz wichtig, dass wir das in der physischen Begegnung mit dem Wal machen, also von einem verwesenden Wal einen Abdruck erstellen.“
Drei Jahre Recherche in Südafrika
Drei Jahre lang hat Gil Shachar nach seinem Traum recherchiert, sich auch in Stralsund mit Meeresbiologen getroffen, bei einem dreimonatigen Künstleraufenthalt in Kapstadt in Südafrika Anträge bei der Regierung gestellt, sich dort ein Team gesucht und schließlich zur Finanzierung Crowdfunding betrieben. Bis zu dem Anruf im August 2018. In Lambert’s Bay war ein Wal angespült worden: „Wir hätten den nicht so bestellen können, der kam einfach so - auf dem Rücken liegend und mit den ganzen Verletzungen auf seiner Haut. Die Oberfläche ist sehr rau mit vielen Löchern oder Kratern, das sind alles Bisswunden. Dadurch wissen wir, dass er im Meer gestorben ist und tot angespült wurde. Er hat auch zwei Schnittwunden von einer Schiffsschraub an einer Flosse. Man weiß also, da war ein echter Wal, der das alles erlebt hat und das erzeugt eine ganz andere Wirkung als ein modellierter Wal in einem Naturkundemuseum.“
Dies erlebte er schon bei seiner ersten Präsentation des Kunstwerks in der Kapstadter Werkstatt, in der er zunächst aus den Einzelteilen die Abgussform zusammensetzte und dann in einem Metallgestell die Skulptur herstellte: „Wale sind sehr beliebt dort. Südafrika hat bereits 1976 als erster Staat den Walfang verboten. Die Leute haben sehr emotional auf den Wal reagiert. Zum ersten Mal überhaupt habe ich in einer Ausstellung erlebt, dass Besucher sich bei mir bedanken, dass ich das gemacht habe“, erzählt Shachar. Der Künstler möchte sein Werk allerdings nicht deuten: „Die Idee kam ja im Traum, sie kam aus meinem Unterbewusstsein. Ich sehe den Wal als autonomes Kunstwerk, aber die Themen Umweltschutz und Tierschutz sind natürlich darin präsent.“ Ebenso, wie die religiöse Symbolik, die gerade bei der Ausstellung im Greifswalder Dom eine Rolle spielt. Die Geschichte von Jona im Bauch des Wals, christlich gedeutet als Bild für Jesu Tod und Auferstehung: „Dass das eine offene Kirche ist, finde ich sehr schön. Dadurch kommen die religiösen Assoziationen mehr, aber die sind eh schon da. Der Wal ist ein christliches Symbol und das ist ok, und es gibt viele andere Ebenen, die noch darin sind und die man auch noch spüren kann.“
Zeichen Gottes
Als Zeichen Gottes wurde vor mehr als 500 Jahren ein Wal gedeutet: Am 30. März 1545 hatte sich ein Buckelwal in Wieck im Greifswalder Bodden verirrt. Eine Wandmalerei in der Greifswalder Marienkirche belegt, welchen Eindruck dieses riesige Geschöpf auf die damaligen Zeitgenossen machte.
An diese Gegebenheit knüpft die Aktion „GreifsWALder Resonanzen“ an. Ruth Gilberger steht der Bonner Montag Stiftung vor, die möglichst vielen Menschen einen Zugang zur Kunst vermitteln möchte. Sie erzählt: „Für unser Greifswalder Projekt haben wir nach einem Impuls gesucht, den wir senden können, um Resonanzen zu empfangen. Gleich beim ersten Besuch sind wir auf den Wal in der Marienkirche gestoßen, und waren ganz fasziniert davon, dass das keine zeitgenössische Darstellung ist, sondern ein Fresko von 1545, das uns in seiner Zeitlosigkeit sehr beeindruckt hat.“
Vom 2. bis zum 9. August bietet die Stiftung verschiedene Workshops mit Künstlerinnen und Künstlern aus der Region an, viele davon in Schönwalde, einem Stadtteil von Greifswald, der von Plattenbauten geprägt ist. Ruth Gilberger: „Kunst und Glaube verbindet dieser idealistische und hoffnungsvolle Ansatz, dass man etwas verändern kann. Ich bin immer wieder verblüfft, was sich in unseren Projekten tut, wenn man Menschen ernst nimmt und ihnen die Möglichkeit gibt, die Freiheit, die Kunst bietet, wahrzunehmen und sich darin zu erproben. Vielleicht auch zu scheitern und dann festzustellen, dass gar nicht schlimm ist, sondern zum Schaffensprozess und zum Leben dazugehört. Und um zu sehen, was für eine Freiheit man gewinnen kann, wenn man sich auf das Abenteuer Kunst und vielleicht auch das Abenteuer Glauben einlässt.“
Quelle: Bischofskanzlei Greifswald (ak)