Zeitzeuge Rüdiger Timm im Gespräch "Der 17. Juni 1953 wurde in der DDR totgeschwiegen"

Rüdiger Timm

Foto: Christian Meyer

17.06.2023 · Schwerin. Rüdiger Timm wurde 1931 geboren und wuchs in Tessin bei Rostock auf. Nach seinem Theologiestudium in Rostock und Halle war er ab 1956 Vikar in Schorrentin bei Malchin. Ende 1957 begann er als Pastor in Breesen nordwestlich von Neubrandenburg. Von 1976 bis 1996 war er Landessuperintendent in Malchin. Heute lebt er in Schwerin. Zum 70. Jahrestag des Volksaufstands am 17. Juni 1953 sprach Annette Klinkhardt mit dem heute 91-Jährigen Zeitzeugen:  

Wie haben Sie den 17. Juni 1953 erlebt?

 

Der Aufstand ging ja von Arbeitern aus, die zunächst in Berlin, dann auch an Industriestandorten wie Halle und Leuna auf die Straße gingen. Er betraf aber auch die Werften, zum Beispiel in Rostock. Die Arbeiter wehrten sich dagegen, dass sie zehn Prozent mehr leisten und dabei keinen Pfennig mehr verdienen sollten.

 

An ein Streiken war zu DDR-Zeiten nicht zu denken, im Sozialismus gibt’s keinen Streik, und so hat sich die Not der arbeitenden Bevölkerung so entladen. Ich war zu der Zeit Theologiestudent, aber im Juni in Tessin auf dem Lande. Deshalb habe ich unmittelbar wenig mitbekommen. Erst hinterher wurde gesagt, es seien auch kirchliche Mitarbeiter gegen die Führung der DDR in Opposition gegangen und das dürfe man sich nicht gefallen lassen.

 

Wie ging es nach dem Arbeiteraufstand insbesondere für die Kirche weiter?

 

Ich habe in der Folgezeit eine Aufweichung erlebt mit Zugeständnissen gegenüber der Kirche. Unmittelbar davor hatte es immer größere Repressionen gegeben, unter der besonders die Jungen Gemeinden zu leiden hatten. Es gab regelrechte Hetzkampagnen gegenüber der kirchlichen Jugendarbeit und Verhaftungen von Kirchenleuten.

 

So wurde der Studentenpfarrer Johannes Hamel im Februar 1953 verhaftet. Wenige Tage nach den Aufständen kam er Anfang Juli frei. Ich studierte 1953 in Halle und gehörte zur evangelischen Studentengemeinde. Ich habe ihn erlebt als einen Studentenpfarrer, der sich nicht scheute, die Wahrheit laut und deutlich zu sagen und sich gut antisozialistisch äußerte. Vielleicht hat er auch etwas gegen den Staat Gerichtetes gesagt. Gerade uns Theologiestudenten hat seine Festnahme bewegt.

 

In der Studentengemeinde waren nicht nur Theologiestudenten, sondern auch Mediziner und viele andere. Die wurden sehr hellhörig, dass ein Studentenpastor eingesperrt wurde. Das hat uns aber nicht ängstlicher gemacht, sondern eigentlich genau das Gegenteil dessen erreicht, was die Partei wollte. Wir wurden noch oppositioneller oder noch mehr gegen den sozialistischen Staat eingenommen als wir ohnehin eingestellt waren.

 

Wie erklären Sie sich dieses leichte Tauwetter für die Kirche nach den Aufständen?

 

Ich denke, das hing mit dem 17. Juni zusammen, dass ein paar nachdenkliche Leute in der Regierung gesagt haben, so scharf können wir wohl nicht vorgehen. Wir müssen den Arbeitern und auch den Kirchen mehr entgegenkommen, die Zügel etwas lockerer lassen, um nicht noch größere Unruhen aufkommen zu lassen. Es ging also um innere Stabilität.

 

So gab es für uns ab dem Sommer 1953 überhaupt erst die Möglichkeit, den Studienort zu wechseln. Auch wurde Schülern, die oppositionell erschienen, auch weil sie zur Jungen Gemeinde gehörten, oder die aus oppositionellem Elternhaus stammten und die vorher nicht zur Oberschule zugelassen worden waren, zeitweise der Zugang erleichtert und im Laufe der nächsten Jahre dann aber schärfer angezogen.

 

Ich durfte in den Schulen Christenlehre machen bis Anfang der 1960er Jahre. Als Gemeindepastor habe ich bis Anfang der 1960er Jahre eine relativ ruhige Zeit erlebt. Es wurde in Bezug auf Konfirmation und den Druck zur Jugendweihe verschärft dadurch, dass so viele Bauern in den Westen gingen vor 1961, als es noch möglich war. Mit dem Bau der Mauer wurde die Situation für uns als Kirche deutlich schlimmer.

 

Was wussten Sie zu DDR-Zeiten über den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953?

 

Das wurde totgeschwiegen. Solange die DDR bestand, durfte man nicht darüber sprechen, dass so etwas überhaupt möglich war. Es war ja auch undenkbar, dass in dieser „menschenfreundlichen DDR“ bei dieser „schönen und tüchtigen“ Regierung überhaupt jemals so eine Art Aufstand stattgefunden haben sollte. Das ging so weit, dass Kalender aus dem Westen, aus denen der 17. Juni als Datum des Tags der deutschen Einheit nicht herausgeschnitten war, nicht beim Adressaten ankamen.

 

Als ich dann Gemeindepastor war, haben wir regelmäßig Besprechungen mit Vertretern des Rates des Kreises gehabt und ich kann mich nicht entsinnen, dass die Aufstände nach 1953 jemals zur Debatte gestanden hätte.

Quelle: Bischofskanzlei Greifswald (Interview: Annette Klinkhardt)