Symposium zur Rolle Sibrand Siegerts im Dritten Reich stieß auf großes Interesse Auf der Suche nach Wahrheit
Von Marion Wulf-Nixdorf
17.12.2024 · Güstrow. Was haben unsere Väter und Großväter im Zweiten Weltkrieg gemacht? Wieviel wird in Familien geschwiegen, verschwiegen, gelogen? Die Mecklenburger Theologenfamilie Siegert erfuhr kürzlich von der Verstrickung ihres Pastoren-Großvaters in das Nazi-Regime. Und stieß einen Aufarbeitungsprozess an.
Das Interesse war groß: Rund 70 Anmeldungen gab es für das Symposium „Sibrand Siegert als Persönlichkeit der Kirchengeschichte Mecklenburgs im 20. Jahrhundert“ am 30. November in Güstrow. Eingeladen hatten der Kirchenkreis und die Evangelische Akademie der Nordkirche. Auch sechs von elf Enkeln waren dabei. Sicher nicht ganz einfach – war es doch der Versuch, das über Jahrzehnte hoch gehaltene Bild des Großvaters und Pastors neu zu bewerten mit Hilfe von hochkarätigen Wissenschaftlern. Auch, weil das „Haus der Kirche“ bis zum Sommer noch den Namenszusatz „Sibrand Siegert“ trug.
Vor fünf Jahren hatte sich für die Familie herausgestellt: Sibrand Siegert war nicht nur Pastor der Bekennenden Kirche, unter dessen Leitung die Pfarrkirchengemeinde Güstrow in den 1930er Jahren zu einem Ort des Widerstands gegen die Übernahme der Mecklenburgischen Landeskirche durch die Nationalsozialisten wurde. Außerdem hatte er großen Anteil an der kampflosen Übergabe der Stadt zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Siegert war nach seiner Einberufung zur Wehrmacht aber auch stellvertretender Kommandant von Kriegsgefangenenlagern in Weißrussland: als Offizier von 1941 bis 44. Bekannt geworden war das, als es um das Gedenken an die friedliche Übergabe der Stadt Güstrow an die Rote Armee vor 75 Jahren ging. Dem kommunistischen Funktionär Bernhard Quandt, ab Kriegsende Landrat von Güstrow, später Ministerpräsident von Mecklenburg und dann SED-Bezirkschef, sollte die Ehrenbürgerwürde entzogen werden. Siegert wollte man sie verleihen. Da habe ein Historiker die Familie angerufen und gesagt, man solle „den Ball möglichst flachhalten, es gebe belastendes Material“, erinnert Tilman Baier in der Mecklenburgischen und Pommerschen Kirchenzeitung vom 29. September diesen Jahres. Im Dezember 2020 löste die Familie einen Rechercheauftrag aus.
Die Ergebnisse führten zum Beschluss des Kirchenkreisrates am 25. Juni 2024, den Namenszusatz des Hauses der Kirche „Sibrand Siegert“ zu streichen, im Einvernehmen mit der Familie. Außerdem wurde ein Symposium vorbereitet, bei dem eine wissenschaftliche Einordnung vorgenommen werden sollte und die Frage bedacht, wie eine angemessene Erinnerungskultur heute aussehen könnte. „Das scheint von hoher Relevanz zu sein“, betonte Propst Markus Antonioli bei der Begrüßung der Teilnehmenden, „da bestimmte Themen wieder aktueller erscheinen als sie es lange Jahre gewesen zu sein scheinen. Und gewiss wird das für jede und jeden von uns auch den Blick auf die Verstrickungen der eigenen Vorfahren schärfen.“
Den Blick auf Verstrickungen schärfen
So stand das Johanneswort 8,32 „Die Wahrheit wird euch frei machen“ über dem Tag. Dies bedeute, einen klaren Blick auf die Geschichte aus der Perspektive der Opfer einzunehmen. Außerdem gehe es um die Frage, welche Vorbilder heute noch tragen. Sibrand Siegert habe segensreich als Pastor der Bekennenden Kirche und später als Landessuperintendent gewirkt, hieß es. Aber er sei auch in „verhängnisvoller Weise in die verbrecherischen Abgründe der NS-Zeit verstrickt“ gewesen. Dazu sprach die Historikerin Anne Drescher, ehemalige Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie hatte auf Bitten der Familie Siegert in Archiven geforscht.
Anhand der Unterlagen ist nicht zu belegen, woran Siegert als stellvertretender Kommandant von Kriegsgefangenenlagern konkret beteiligt war und wieviel ihm von den Verbrechen bewusst war, legte sie dar. Aber: „Die Funktionen, die er innehatte, belegen eindeutig seine Mitverantwortung.“ Das Lager sei die Tat gewesen und der Dienst – egal in welcher Funktion - „Beihilfe zum Mord“.
Belegbar ist Siegerts Laufbahn von 1940 bis 45 bei der Wehrmacht. Ab Mitte 1941 war er Kommandeur der Kriegsgefangenen im Bereich Stettin und dann Ostland mit Sitz in Riga. In den beiden Stalag 337 bei Baranovici/Belarus und 352 in Minsk/Belarus, in denen er als stellvertretender Kommandant eingesetzt war, sind zehntausende russische Kriegsgefangene und jüdische Zivilisten zwischen Juli 1941 und August 44 umgekommen, schilderte Anne Drescher. Sie starben durch Erschießungen, an Krankheiten und Erschöpfung. Sie verhungerten, mussten im Winter bei bis zu minus 30 Grad zum Teil im Freien übernachten und erfroren. „Jeder, unabhängig von seiner Funktion im Lager, war Teil der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten“, sagt Drescher.
Die Staatssicherheit in der DDR „wusste Bescheid“, aber dies war ohne Konsequenzen geblieben, erklärte sie. Wie erpressbar war Kirche dadurch?
Wichtig für die historische Einordnung und einen Einblick in das Handeln der Menschen waren die beiden Eröffnungsvorträge. Dagmar Pöpping, promovierte Philosophin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte in München, sprach über Geistliche im Krieg gegen die Sowjetunion. Es habe sich nicht ausgeschlossen, zur Bekennenden Kirche zu gehören und gleichzeitig Krieg gegen den Bolschewismus zu führen, betonte sie. Es sei um die Wiederherstellung des Christentums auf dem Gebiet der Sowjetunion gegangen. Wer nicht an Gott glaube, habe keine Seele, so die damalige Auffassung laut Pöpping. Ohne Seele sei man kein Mensch.
Über die Bekennende Kirche Mecklenburgs in der NS-Zeit sprach Hansjörg Buss, promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Seminars für Evangelische Theologie der Universität Siegen. Er machte deutlich, dass die rund 1200 Kriegspfarrer im Zweiten Weltkrieg nicht der Kirche unterstellt waren, sondern der Wehrmacht. Damit waren sie auch für die psychologische Kriegsführung zuständig.
Die Bekennende Kirche ist neu zu sehen
In Verbindung mit der Aberkennung des Namenszusatzes beim „Haus der Kirche“ erläuterte der Theologe und Historiker Rainer Hering, Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein und Professor für deutsche Geschichte an der Uni Hamburg, Intentionen bei Namensnennungen im öffentlichen Raum. Die Gesellschaft brauche Leitbilder, sagte er – aber der Blick ändere sich. Dr. Stephan Linck, Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit der Evangelischen Akademie der Nordkirche, sprach über Selbstdeutung und Erinnerungskultur der Bekennenden Kirche nach 1945.
Was nun waren die Erkenntnisse für die Familie Siegert? Der Enkel Karl-Matthias Siegert aus Rostock, bis zum Eintritt in den Ruhestand Landessuperintendent und Propst und vier Wochen nach dem Tod des Großvaters 1954 geboren, sprach über das Bild des Großvaters in der Familie, über die Rolle als Pastor der Pfarrkirchengemeinde in Güst-row, in der Bekennenden Kirche und seinen Beitrag bei der Bodenreform nach dem Krieg, sein soziales Engagement. Aus der Lichtgestalt des Großvaters war durch die Recherche ein Mensch geworden, der auch in die Nazi-Verbrechen verstrickt war. Dankbar zeigte sich Karl-Matthias Siegert für den „sachlichen und fairen Umgang“ mit dem Großvater und der Familie. Sein Bruder Sibrand Siegert aus Schwerin betonte in einem abschließenden Podiumsgespräch mit Professor Dr. Oliver Plessow von der Uni Rostock und Oberkirchenrat Dr. Thomas Schaack, Referent für Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts und Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit der Nordkirche, er habe seinen „Frieden gemacht“.
Die Bekennende Kirche, so wurde deutlich, ist nicht nur mit Blick auf Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller zu sehen, sondern auch in der Mitverantwortung für die nationalsozialistische Machtergreifung. Hier gibt es noch viel aufzuarbeiten. Denn: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“
Von diesem Symposium, moderiert und mitvorbereitet von Klaus-Dieter Kaiser, emeritierter Direktor der Evangelischen Akademie, wird es einen Videomitschnitt geben, heißt es vom Kirchenkreis.
Quelle: MPKZ