Neues Leben im AlterKurzgeschichten

Kurzgeschichte Mai/Juni 2024Verschwundene Liebe

Am Sonntagnachmittag treffe ich bei der Kapelle draußen in den Weinfeldern die alte Maria.
Sie sitzt da in der Sonne und scheint Zeit für ein kleines Schwätzchen zu haben.

Wir plaudern ein wenig und schweigen lange. Sie seufzt manchmal: "Ach ja, so ist das Leben!" und bricht dann in eine Klage aus.
"O, mein Gott! Die Zeiten haben sich sehr geändert", sagt sie. "Früher waren die Menschen so hilfsbereit und immer füreinander da. Die Nachbarn halfen einander, und die Kinder waren voller Respekt und Liebe für die Eltern. Sie gehorchten und arbeiteten mit.
Heute ist das überhaupt nicht mehr so. Diese Werte gelten alle nicht mehr. Es fehlt die Liebe. Es gibt einfach keine Liebe mehr unter den Menschen." Heroische Worte.

 

"Es gibt keine Liebe mehr auf der Welt."
Das sagt diese kleine, bienenfleißige Bauersfrau so ganz leise und aus ihrer Erkenntnis heraus. Sie muss lange darüber nachgedacht haben, bis diese Worte in ihr reiften. Was gibt ihr den Anlass für solche traurige Erfahrung?

Die alte Maria lebt sehr zurückgezogen, sie spricht kaum mit den anderen Dorfbewohnern. Wahrscheinlich spricht sie mit mir nur, weil sie denkt, ich verstehe als Fremde eh nicht so gut, was sie sagt. Selten sehe ich ihre Söhne und Schwiegertöchter. Auch die Enkelkinder kommen fast nie zu Besuch.

 

Und plötzlich fällt mir ein, dass mir vor langer Zeit einmal eine Frau aus dem Dorf erzählt hat, wie sie mit ihrem fieberkranken Kind zu eben dieser Frau Maria gelaufen ist und sie in ihrer Not gebeten hat, mit dem Auto zum Arzt zu fahren.

Es war im Dorf das einzige Auto damals, es gab kein Telefon, der Arzt wohnte im Nachbarort, das Kind fieberte stark: „Und sie hat es glatt abgelehnt, sie hat mich mit dem Kind wieder nach Hause geschickt. Ich habe diese hartherzige Frau nie mehr um etwas gebeten. Sie ist kein guter Mensch."

 

Und nun, nach 40 Jahren, steht die alte Maria da und stellt fest, dass die Liebe aus der Welt verschwunden ist. „Es gibt keine Nächstenliebe und keine Nachbarschaftshilfe und keine Liebe der Kinder und Enkelkinder mehr“, sagt sie.

„Das Leben ist kalt und lieblos. Die Liebe ist davon gegangen.“

 

Hm. Aber wohin ist sie gegangen?
Dahin, wo sie gesät und geübt wird und wo sie wohnen kann, wie der Dichter Jeremias Gotthelf sagt: „Mit der Liebe ist es wie mit den Pflanzen. Wer Liebe ernten will, muss Liebe säen.“

 

Barbara Seuffert