September 2015Einladung zum ungläubigen Staunen
Bisher habe ich noch keine Statistik gesehen dazu, wie viele muslimische Menschen in diesen Wochen und Monaten nach Deutschland kommen. Daß es unter den Flüchtlingen sehr viel mehr sind als Christen und Christinnen, ist klar. In der Erstaufnahme-Unterkunft in Stern Buchholz sehe ich oft die vielen Schuhe oder Sandalen vor dem muslimischen Gebetsraum. Der Raum wird gut genutzt; er liegt auf gleichem Flur direkt neben dem christlichen Andachts- und Gebetsraum. Auch dort sieht man öfter Schuhe vor der Tür: In vielen Ländern mit gemischter Bevölkerung ist es auch für ChristInnen üblich, das Schuhzeug draußen vor zu lassen. Anas, Muslim aus Syrien sagte: 'Wir sind sehr glücklich, daß es diese Räume hier gibt in diesem Haus'.
Angesichts der vielen, vielen Ankommenden; der dramatischen Probleme der Unterbringung; der Organisation der ersten Schritte ist eines der häufigsten Wörter 'schnell, schnell'. Von 'schneller' Integration ist viel die Rede, von 'schnellstens' anzubietenden Deutschkursen, von Lehrstellen und Arbeitsplätzen, die 'schnell' gefunden und geschaffen werden müssen. Das ist alles sehr nachvollziehbar, übrigens von den Ankommenden auch sehr gewünscht. Aber ich bekomme in vielen Gesprächen auch mit, wie wenig all das 'schnell' Erforderliche Zeit läßt zum Durchatmen, zum Sich-Umschauen, zum ersten Verstehen, zum innerlich Nachkommen, Nach-Denken. 'Schnell, schnell' – das gilt nicht nur für die Flüchtlinge; es betrifft auch viele von denen, die für sie und mit ihnen arbeiten.
Zum Geburtstag bekam ich ein sehr schönes Geschenk, ein Buch des Schriftstellers Navid Kermani. Titel: 'Ungläubiges Staunen. Über das Christentum'. Es ist ausgestattet mit prächtigen Bildern aus der christlichen Kunst. Es ist geprägt von Neugier, Verstehen-wollen, von respektvoller Annäherung. In vierzig kurzen, dicht geschriebenen Kapiteln denkt der Muslim Kermani nach, meditiert, nähert sich, vertieft sich mit 'ungläubigem Staunen' über die Bilder (!) in wichtige Stichworte christlicher Religion. Es ist ein hinreißendes Buch, angesichts der opulenten Ausstattung zu einem Spottpreis zu haben. Immer wieder bringt Kermani Bibelverse und Koranverse, Elemente unserer und seiner Religion in Kontakt, spürt Ähnlichem wie Unterschiedlichem nach... Ach was, man muß das selber betrachten und lesen.
Mir dient dieses Buch zur Zeit als Hilfe zur Entschleunigung, zum Nachkommen, zum inneren Pausieren. Zum Stichwort 'Kirche', geschrieben anläßlich des Besuches einer Kirche in Rom an der Spanischen Treppe, heißt es in dem Buch: "… Die vier Brüder und sieben Schwestern erhoben sich, die beiden Älteren mit einem Ächzen, das auch bei Freitagsgebeten zu vernehmen ist, und fingen an, im Chor zu singen, italienische, französische und lateinische Gesänge, wenn ich mich nicht täuschte, der Hall verwischte die Konsonanten, aus alter Zeit, das war klar, traurig und demütig im Tonfall, nicht viel anders als die sephardischen Lieder, die wir als Studenten in Kairo hörten, nur eben im Chor, Herzweh des Mittelmeeres. Niemand stand am Altar, alle beteten in gleicher Richtung. … dafür fühlte ich umso stärker die Dankbarkeit, daß mich die katholischen Schwestern und Brüder an ihrem Gottesdienst teilhaben ließen".
Wer zwei Hosen hat oder zwei Röcke, mache eine/n zu Geld und besorge sich dieses Buch!
Walter Bartels