Die monatliche Kolumne von Flüchtlingspastor Walter BartelsDezember 2017: χάρις… gratia… grace… mercy… gracia… genaden…

Der abendliche Blick auf den Hafen von Stone Town ist unvergleichlich, fast magisch bei Sonnenuntergang, obwohl es laut und lebhaft zugeht. Ein Frachter wird mit Containern beladen. Fähren aus Dar es Salaam laden Touristen ab, nehmen neue an Bord. Wendige Wassertaxis bahnen sich den Weg durch das Gewirr… Nur eine Art von Schiffen ist ohne alle Hektik: Große Kähne mit ihren dreieckigen Segeln kommen geräuschlos heran oder passieren den Hafen, wie in Zeitlupe. Seit Jahrhunderten wird die Dhow für den Transport von Menschen und Waren genutzt, auch für Menschen als Waren. Die Dhow gehört untrennbar zu Sansibar, zu seiner Geschichte.

Es kommt ein Schiff geladen bis an seinʼ höchsten Bord… Das schwermütig-schwerblütige Adventslied aus dem 17. Jahrhundert ist mir eher fremd, aber jetzt, kurz nach dem 1. Advent, kam es mir in den Sinn beim Anblick dieser archaischen Segler. Das Schiff geht still im Triebe; es trägt einʼ teure Last. Es ist klar, welche teure, kostbare Last das Lied meint: den Sohn voll Gnaden – als Gottes riskantes und überraschendes Geschenk an eine Welt, in der Gnade weithin ein Fremdwort ist und als veraltet gilt: Nichts weniger als das. 

Welch ein Kontrast zu der Fracht und dem gnadenlosen Gewerbe, für das die Dhow besonders im 19. bis hinein ins 20. Jahrhundert stand! Die Anglikanische Gemeinde auf Sansibar bietet auf ihrem Gelände eine exzellente Ausstellung, die eindrücklich den Sklavenhandel in Ostafrika zeigt, dessen Drehscheibe Sansibar war. Wo heute der Altar der Kathedrale steht, fand bis etwa 1870 der Sklavenmarkt statt. Arabische Menschenhändler vor allem betrieben das Geschäft, aber Europäer als Abnehmer der 'Ware' waren tief hinein verstrickt; so erwarben sie billige Arbeitskräfte für die Plantagen oder als Personal in Bürgerhäusern. Die Royal Navy immerhin bekämpfte das Geschäft schließlich, als in Europa immer mehr und bohrender nach der dunklen Herkunft dieser Menschen gefragt wurde.

Das Unvorstellbare dieser Geschichte mag man sich kaum vorstellen. Gelegentlich springt einen dann der Zusammenhang von alter Kolonialgeschichte und ihrer immer noch aktuellen Nachgeschichte an. Neben der Kirche ist eine Skulpturen-Gruppe zum Gedenken an das Geschehene zu sehen: Menschengestalten in einer Bodenkammer mit Ketten um den Hals, wie im Dhow-Raum unter Deck. Als ich das schlichte Kunstwerk fotografieren will, stellen sich gerade einige Jugendliche den Skulpturen zur Seite: not for fun, sondern mit sehr ernsten Gesichtern. Dann steigen sie wieder herauf und gehen schweigend weg. Gern hätte ich sie angesprochen…

Der Anker haftʼ auf Erden, da ist das Schiff an Land.
Daß der 'Sohn' seinen Fuß auf die Erde kriegt und ankommt in unserem Leben; daß er willkommen geheißen wird, ist die Hoffnung des Adventsliedes und die Sehnsucht des Passagiers, der in ihm besungen wird. 

Walter Bartels


Archivtexte

 

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