"Weder Ochs noch Esel" Wie Erich Honeckers Zitat seinen Realitätsverlust offenbarte
Von Karl-Heinz Baum
14.08.2014 · Berlin. Im Sommer 1989 waren die Zerfallserscheinungen des DDR-Regimes bereits unübersehbar. Erich Honecker, der mächtigste Mann im SED-Staat, bekam von dieser Realität aber nichts mit. Das zeigte er mit einem geflügelten Wort der Sozialdemokratie.
"Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf." Spätestens mit diesem Ausspruch Erich Honeckers am 14. August 1989 offenbarte sich der fortschreitende Realitätsverlust des mächtigsten Mannes der DDR. Der SED-Chef sagte den Satz während eines Besuchs des Erfurter Mikroelektronikwerks "Karl Marx", bei dem ihm ein neuer 32-bit-Speicherchip vorgestellt wurde. Honecker war so erfreut vom Erfolg der DDR-Elektronik, dass er eine "alte Erkenntnis" der Arbeiterbewegung zitierte. Der Spruch selbst ist da schon über hundert Jahre alt.
Für die Menschen zwischen Rügen und Vogtland wird das Zitat 1989 aber zum Symbol für den geistigen Zustand der SED-Spitze. Seit am 7. Juli Honecker krankheitsbedingt vom Gipfeltreffen der Ostblockspitzen aus Bukarest nach Berlin zurückkam - angeblich wegen einer Gallenblasenerkrankung - passierte politisch offiziell quasi nichts mehr. Nur am 14. August meldete sich der Staats-Chef mit dem "Ochs und Esel"-Satz kurz und verschwand dann erneut für sechs Wochen. Weder er noch seine Vertreter äußerten sich mit irgendeinem Wort zu den aktuellen Problemen des Landes.
Glaubt man DDR-Zeitungen, ist zu diesem Zeitpunkt alles in bester Ordnung: Glückliche Menschen machen Urlaub an der Ostsee. Das Land ist im Wachstumsschub, die Bilanz der Volkswirtschaft wird laut Statistik immer besser. Doch Hoffnungslosigkeit, Ärger über ständige Gängelungen, Unzufriedenheit über Versorgungsmängel nahmen den Menschen die Lebensfreude und lagen wie Mehltau überm Land. Wer fünfzehn Jahre auf einen Neuwagen warten muss, dem reichte es irgendwann.
"Nur noch weg"
Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin machte am 8. August ihre Türen dicht. 130 Besucher wollten das weiße Haus in der Hannoverschen Straße nicht mehr verlassen. Sechs Tage später, am 14. August, folgte die bundesdeutsche Botschaft in Budapest; sie hatte 180 Flüchtlinge aufgenommen. Auch in den Botschaften in Prag und Warschau saßen Menschen aus der DDR, die "nur noch weg" wollten.
Seit westliche Staaten in der DDR 1974 ihre Missionen einrichteten, gab es Botschaftsbesetzungen. Die meisten Leute versuchten es über die Ständige Vertretung. Weder westliche Länder noch die DDR wollten Konflikte um Botschaften. Längst hatte sich ein Verfahren zur diskreten Losung eingespielt. Die DDR sagte die Ausreise zu, die meist jungen Leute kehrten in ihre Wohnung zurück und konnten nach drei, vier Monaten das Land Richtung Westen verlassen. Im Sommer 1989 funktionierte das aber nicht mehr: es wurden immer mehr Leute; sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Appelle aus den Kirchen, im Lande zu bleiben und geduldig auf Veränderungen zu warten, konnten sie nicht mehr hören. Die DDR bot Botschaftsflüchtlingen zwar weiterhin Straffreiheit an, aber nicht mehr die Ausreise. Zudem wollten diese Menschen nicht mehr zurück, sondern "Ausreise sofort!"
Schnell rückte Ungarn In den Mittelpunkt des Geschehens. Das Land an der Donau galt seit Jahren als "fröhlichste Baracke des sozialistischen Lagers". Im Frühjahr leitete es Reformen ein. Dazu gehörte vom 2. Mai an der Abbau des Stacheldrahts an der Westgrenze. Im Juni trat Ungarn der Genfer Flüchtlingskonvention bei, nach der Flüchtlinge nicht in ihr Heimatland abgeschoben werden dürfen. Dazu war Ungarn gegenüber der DDR bis dahin verpflichtet gewesen. Rund 100.000 Urlauber aus der DDR waren im Sommer 1989 an Donau und Balaton. Manche nahmen den direkten Weg über die nicht mehr stacheldrahtbewehrte Grenze; einige wurden zurückgeschickt. Wer zweimal ertappt wurde, bekam einen Stempel in den Pass, der die Rückkehr in die DDR verbaut. Dennoch machten so Tag für Tag unzählige DDR-Bewohner "rüber".
Wer in der Budapester Botschaft nicht aufgenommen wurde, ging zur Kirche der "Heiligen Familie" in Buda, auf deren Gelände der Malteser-Hilfsdienst und die in Arnsberg (Sauerland) lebende Ungarin Csilla von Boeselager ein Zeltlager für heimkehrunwillige DDR-Leute anboten. Am 24. August ließ Ungarns Regierung in einer "einmaligen humanitären Aktion" die Botschaftsflüchtlinge ausfliegen - ein Hoffnungszeichen, dass nun weder Ochs noch Esel noch sonst wer die Westreise der anderen aufhalten konnte.
Quelle: epd