Pröpstin Helga Ruch feiert 60. Geburtstag "Ich habe mich nicht gebeugt, sondern gerade gemacht"
Von Sebastian Kühl
19.07.2016 · Stralsund. Mit einem Festgottesdienst in der Stralsunder Heilgeistkirche und einem anschließenden Empfang feierten Freunde, Familie und Bekannte sowie Mitarbeitende aus dem Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis heute den 60. Geburtstag von Pröpstin Helga Ruch.
Stimmung wie beim Pokalendspiel
Geboren wurde Helga Ruch als erstes von fünf Kindern in Pritzwalk in der Prignitz. Ihr Vater war Pastor in Kemnitz. Wie bei Familien mit vielen Kindern üblich, übernahm sie als Älteste schon früh viel Verantwortung für ihre Schwester und ihre drei Brüder. In den 1950er-Jahren war Kinderreichtum in den Pfarrhäusern noch verbreitet. Und so war natürlich immer eine Menge los bei Familie Ruch. Die Altersunterschiede waren nicht groß, da alle fünf Kinder kurz hintereinander geboren waren. „So ein typisches Abendbrot lief vom Lärmpegel und der Stimmung her wie ein Pokalendspiel ab“, sagt Helga Ruch mit einem jugendlichen Lächeln. „Unsere Mutter hat uns bergeweise Stullen geschmiert. Hätte sie das uns Kindern überlassen, wäre die Butter immer gleich alle gewesen.“ Wie der Vater war auch die Mutter Theologin, jedoch nicht berufstätig, sondern voll und ganz „Pfarrfrau“. Eine Entscheidung, mit der sie nicht ganz glücklich war. „Ich denke, sie hat sich ihr ganzes Leben darüber geärgert, dass sie nicht arbeiten konnte.“
Schwierigkeiten weckten Ehrgeiz
Der Vater ließ sich nur selten sehen. Er ging in seinem Pastorendasein auf und nahm sich für die Kinder wenig Zeit. „Er lebte für die Gemeinde. Eigentlich habe ich ihn nur morgens bei der Familienandacht und sonntags auf der Kanzel gesehen.“ Als Helga Ruch neun Jahre alt war, zog die Familie in die Lausitz, in die Nähe von Spremberg. „Da habe ich mich sehr fremd gefühlt. Die Mentalität war ganz anders und auch die Schulform. Es gab dort ein Schulkombinat und jedes Jahr wechselte der Schulort. Ich war das aus der Prignitz anders gewöhnt, dort waren vier Klassen in einem Raum unterrichtet worden. Diese Zeit war nicht einfach für mich“, erinnert sich Helga Ruch. Doch weckten die Schwierigkeiten auch ihren Ehrgeiz und so holte sie den fehlenden Stoff auf und zählte bald zu den Besten. Nach sechs Jahren in der Lausitz wurde Helga Ruchs Vater krankheitsbedingt pensioniert und die Familie zog zurück in die Prignitz. Die neunte und zehnte Klasse besuchte sie in der alten Heimat, bevor sie ab 1972 eine vierjährige Ausbildung als Krankenschwester am Königin-Elisabeth-Hospital in Berlin begann.
Medizin oder Theologie?
„Mein Berufswunsch schwankte zwischen Theologie und Medizin. Aber da ich ja aufgrund meines Glaubens in der DDR kein Abitur machen durfte, hatte sich das mit Medizin schnell erledigt, doch ich wollte wenigstens etwas in dieser Richtung machen, als Vorbereitung“, erzählt Helga Ruch. „Und in vielerlei Hinsicht hat eine Krankenschwesterausbildung nicht nur für ein Medizin-, sondern auch für ein Theologiestudium eine vorbereitende Wirkung.“ Gern hätte Helga Ruch ihr Abitur auf der Abendschule gemacht, doch der Schichtdienst im Krankenhaus ließ das nicht zu. Eine Chance in dieser Situation bot ihr das Kirchliche Oberseminar Hermannswerder. Hier war es zu DDR-Zeiten möglich, ein Abitur abzulegen, das zu einem Theologie- oder Kirchenmusikstudium an einer kirchlichen Hochschule berechtigte. „Die Aufnahmeprüfung hatte ich bestanden. Die Schule auf Hermannswerder zählte zu den härtesten. Die Leute flogen dort oft schon nach einem halben Jahr.“
Als Gemeindeschwester „Mädchen für alles“
Die anspruchsvolle Ausbildung mit dem Schwerpunkt auf Sprachen gefiel Helga Ruch. Sie hatte Spaß am Lernen. „Mir liegt das. Zudem war ich älter als die anderen und konnte mit dem Leistungsdruck besser umgehen.“ An den Wochenenden arbeitete sie im Krankenhaus. Doch so richtig wohl fühlte sie sich am Kirchlichen Oberseminar nicht. Das Alter, bei den Anforderungen von Vorteil, war im Zusammenleben im Internat mit all den deutlich Jüngeren nicht optimal. „Dazu kam, dass ich unsicher war, ob ich das wirklich wollte.“ Helga Ruch brauchte noch Bedenkzeit, mehr Praxis bezogene Aufgaben und weitere Erfahrungen. Die sammelte sie in Magdeburg als Gemeindeschwester. „Es war eine faszinierende Aufgabe innerhalb einer starken Hierarchie, in der ich charismatische Menschen kennenlernte. Als Gemeindeschwester war ich das Mädchen für alles, unterrichtete zum Beispiel in der Christenlehre.“ Neben der Arbeit absolvierte Helga Ruch während der Zeit in Magdeburg eine Prädikantenausbildung durch kirchlichen Fernunterricht. „Danach, mit 25 Jahren, war mir klar, dass ich doch Theologie studieren wollte.“ Doch die Bewerbungen beim Berliner Paulinum und in Greifswald wurden abgelehnt. Der Grund: keine freien Plätze.
„Ich wollte nicht an der Uni verstauben.“
Doch mit solchen Absagen ließ sich Helga Ruch nicht von ihren Plänen abbringen. „Ich habe mich in den Zug gesetzt und bin mit meinen Zeugnissen im Gepäck nach Greifswald gefahren, um mich persönlich vorzustellen.“ Das kam gut an und öffnete die Türen. Nachdem sie die Zulassungsprüfung bestanden hatte, begann sie 1981 ihr Theologiestudium. Auch als Studentin kamen ihr wieder Strebsamkeit und Fleiß zugute, so dass sie nach nur acht Semestern einen überdurchschnittlichen Abschluss und das Angebot zu promovieren erhielt. Das Angebot schlug sie aus: „Ich wollte doch nicht an der Uni verstauben, ich wollte in die Gemeinden!“ Und da Helga Ruch in der Studentenzeit Gefallen an der pommerschen Landeskirche gefunden hatte, wollte sie bleiben. Ihr Vikariat begann sie im Alter von 29 Jahren in Weitenhagen, im „Haus der Stille“. Wie dort über den Glauben gesprochen wurde, sei eine Wohltat gewesen. Ein Gegensatz zu ihren Erfahrungen als Gemeindeschwester. „Theologische Fragen ließen sich in Magdeburg nicht diskutieren.“ Im „Haus der Stille“ dagegen herrschte eine völlig andere, offene und zugewandte Atmosphäre.
Wunderbare Jahre in einer tollen Gemeinde
Die erste Station als Pastorin war dann ab 1987 die Stelle in Klatzow im damaligen Kirchenkreis Altentreptow. „Das war eine wunderbare Zeit in einer ganz tollen Gemeinde“, erinnert sich Helga Ruch. Zwar sei das Pfarrhaus sanierungsbedürftig und zudem noch von der Pfarrfrau bewohnt gewesen, doch „wir haben uns zusammengerauft“. Rund 13 Jahre war Helga Ruch in der Kirchengemeinde Klatzow Pastorin. Neun Predigtstellen gab es dort, so dass vier Gottesdienste pro Sonntag Normalität waren. Im Jahr 1997 arbeitete Helga Ruch im Rahmen der Strukturreform in einer Kommission mit, in der es darum ging, aus 15 Kirchenkreisen vier zu machen. Die Erinnerungen daran sind weniger schön. „Wir haben uns da die Köpfe heiß geredet“, sagt Helga Ruch und zieht die Augenbrauen hoch. Und obwohl ihr in dieser Kommission wieder deutlich wurde, wie viel mehr sie die praktische Arbeit in den Gemeinden liebt, sagte sie doch zu, als die Stelle der Superintendentur in Stralsund frei war.
„Manchmal muss man sich stellen.“
„Wäre es nach mir gegangen, würde ich heute noch immer in Klatzow sein“, sagt Helga Ruch und es schwingt ein Hauch Wehmut in ihrer Stimme. Doch statt Gemeindepastorin zu bleiben, folgte sie mit großer Entschlossenheit dem Ruf, mehr Verantwortung in der pommerschen Kirche zu übernehmen. „Manchmal kann man sich nicht zurückziehen, manchmal muss man sich einfach stellen“, begründet Helga Ruch diese Entscheidung. Zudem habe sie der Kirchenkreis Stralsund mit seiner Differenziertheit, den Inseln, der Hansestadt und dem Hinterland schon sehr gereizt. Der Start in der Superintendentur im Jahr 2000 bedeutete den Weggang aus Klatzow. „Das war ein unglaublich bewegender Abschied. Vor allem die umfangreiche Ehrenamtlichenarbeit dort hat mich immer beeindruckt, zum Beispiel in den Gottesdienstvorbereitungsgruppen. So hat es die Gemeinde auch geschafft, die Vakanz gut zu organisieren.“
„Ich liebe die Insel Rügen.“
Als Superintendentin in Stralsund stand Helga Ruch nach der Gemeindearbeit vor ganz neuen Herausforderungen. „Ich besuchte zuerst mal alle Pastorinnen und Pastoren und habe dabei schnell entdeckt, was für ein wunderbarer, bunter Kirchenkreis das ist. Diese Vielfalt innerhalb der Einheit zu fördern, statt zu viel zu vereinheitlichen, das hat mich von Anfang an motiviert.“ Allerdings habe es auch Startschwierigkeiten gegeben, kann sich Helga Ruch noch gut erinnern. In die Verwaltungsarbeit habe sie sich erst mühevoll hineinfinden müssen. Zudem gab es im Kirchenkreis nicht nur Zustimmung zur Strukturreform. Auch fünf Jahre später, im Jahr 2005 sei es nicht einfach gewesen, als die Verwaltung zentralisiert wurde. Was ihr den Neuanfang in Stralsund erleichterte, war das neue Zuhause in Altefähr. „Ich wohne da unheimlich gern. Und ich liebe die Insel Rügen.“ Das Haus am Strelasund ist ihre Oase, hier liest sie als bekennende „Leseratte“ Unmengen Bücher und guckt auch mal gern einen Krimi. „Nach der Zeit im Klatzower Pfarrhaus, wo immer was los war, wo immer Menschen ein- und ausgingen, habe ich drei Jahre gebraucht, um mich umzustellen und die Ruhe in Altefähr genießen zu können.“
Aufbruch in die Nordkirche
In den Jahren vor der Gründung der Nordkirche wurde in Pommern viel diskutiert, es herrschte Aufbruchsstimmung. „Ich hätte mir eine Fusion von Mecklenburg und Pommern gewünscht“, sagt Helga Ruch über ihren damaligen Standpunkt. In jedem Fall sei der Beitritt Pommerns zur Nordkirche aber das weit bessere Los gewesen, als die ebenfalls diskutierte Variante der Mitgliedschaft in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. „Und das meine ich, obwohl mein Herz noch immer für Brandenburg schlägt“, sagt Helga Ruch mit einem verschmitzten Lächeln. Die jüngste größere Veränderung in Helga Ruchs Verantwortungsbereich war die Schaffung der drei Propsteien im pommerschen Kirchenkreis, mit der eine Ausdehnung der ehemaligen Superintendentur in Richtung Süden einherging. „Die Zusammenarbeit mit den beiden anderen Pröpsten, Gerd Panknin in der Propstei Demmin und Andreas Haerter in der Propstei Pasewalk, ist wirklich toll. Das funktioniert richtig gut. Und auch das Zusammenspiel mit der kirchenkreislichen Arbeit des Regionalzentrums in Greifswald unter der Leitung von Matthias Bartels ist top!“
Aufenthalt im Kloster als Kraftquelle
Schwerpunkte ihrer Arbeit als Pröpstin sieht Helga Ruch vor allem in der Förderung der Stärken der einzelnen Gemeinden. „Dabei ist es mir wichtig, dass die Pastorinnen und Pastoren, die Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen gut und kompetent begleitet und unterstützt werden.“ Dabei wolle sie stets eine gute Balance finden, zwischen Nähe und Zurücknahme. Natürlich erschwere die Größe der Propstei, die von der Nordspitze Rügens bis südlich der A20 reicht, den persönlichen Kontakt. „Ich würde mir da noch mehr Gespräche und Austausch wünschen“, sagt die Pröpstin. Um das enorme Pensum zu schaffen, hat Helga Ruch feste Arbeitsabläufe entwickelt, zu denen auch Momente des Auftankens und Durchatmens gehören. Jedes Jahr zieht sie sich für eine Woche in ein Kloster zurück, abgeschirmt von der Außenwelt, zur reinen Kontemplation. Danach ist sie wieder „aufgeladen“. Schließlich gibt es im Pastorenberuf keine festen Arbeitszeiten, keine Stechuhr. „Ich bin selbst für die Balance in meinem Leben verantwortlich. Ich lasse mich nicht leben, sondern strukturiere mein Leben selbst.“ Das ist einer ihrer festen Grundsätze. Dabei hilft ihr auch jeden Morgen, ihre „stille Zeit“, in der sie sich in einer kurzen Andacht auf den Tag einstimmt.
Unerschütterliche Gewissheit: Gott fängt mich auf
Helga Ruch zählt zu den Menschen, die aussprechen, was sie denken. Sie liebt klare Aussagen und erwartet das auch aus ihrem Umfeld. Ihr direktes, unverstelltes und dabei stets verlässliches Auftreten hat sie auch immer wieder Gegenwind spüren lassen. Für ihre Überzeugungen tritt sie mit großem Kampfgeist ein. Diese Prägung geht zurück bis in ihre Kindheit. „Sich in der DDR zum Christsein, zum Glauben zu bekennen, das war nicht einfach“, erzählt die Pröpstin. Sie weiß noch genau, wie Steine durch das Fenster des elterlichen Pfarrhauses flogen. Damals war sie fünf Jahre alt. „Doch ich habe mich nicht gebeugt, sondern gerade gemacht.“ Dieses Gefühl, im Widerstand zu sein, begleitete sie. Die Kraft dazu gab ihr der Glaube und die Gewissheit: „Auf dem Grund der Einsamkeit fängt Gott mich auf.“ Doch auch aus der Begeisterung anderer Menschen und wie der Glaube bei ihnen wirksam wird, bezieht Helga Ruch bis heute Motivation und Stärke. „Es gibt mir Schwung, wenn ich sehe, wie Menschen in ihren Aufgaben aufgehen. Wenn ich erlebe, wie Pastorinnen und Pastoren predigen, das Evangelium verkünden und sich der Seelsorge widmen, steckt mich das an und reißt mich mit.“
Ein klares Ja zum Wachsen der Kirche
Zu ihren liebsten Aufgaben als Pröpstin zählen die Visitationen, die Besuchswochen in den Kirchengemeinden, und die Predigtstelle in der Stralsunder Heilgeistgemeinde. „Das ist eine feste Mitte für mich, an der ich mich aufrichten kann.“ Seit ihrer Jugend fokussiert auf die Arbeit, blieb ihr kein Platz für Familie und Partnerschaft. Das fehle ihr zwar schon, sagt Helga Ruch, vor allem eigene Kinder, doch die Frage, ob sie glücklich mit ihrem Leben sei, könne sie aus vollem Herzen mit Ja beantworten. Für die Zukunft möchte Helga Ruch an ihrer Linie festhalten. Einfach auf den Ruhestand hinzuarbeiten, das sei nicht ihr Ding. Besonders liege ihr für die kommenden Jahre eine gut funktionierende Pfarrstellenstruktur am Herzen. „Die Vielfalt der Propstei möchte ich erhalten und dazu beitragen, dass möglichst viele daran Gefallen finden. Ich bin froh, dass ich mich auf meine Mitarbeitenden verlassen kann. Und ich sage Ja zum Wachsen der Kirche, auch in Pommern.“
Quelle: PEK (sk)