Andreas Schorlemmer im Porträt "Ich habe viel Schreckliches gesehen und Vertrauen gelernt“
Von Sebastian Kühl
23.04.2019 · Groß Kiesow. Andreas Schorlemmer hat die Notfallseelsorge in Mecklenburg-Vorpommern mit aufgebaut und war über Jahrzehnte Gemeindepastor in Groß Kiesow. Am 23. April feiert er seinen 70. Geburtstag.
Andreas Schorlemmer sitzt auf einer breiten Couch im Pfarrhaus Groß Kiesow. Die Wand hinter ihm wird fast vollständig von einem grob gezimmerten Bücherregal verdeckt. Draußen im Pfarrgarten ist es kühl, doch es breitet sich schon deutlich sichtbar der Frühling aus, die Sonne scheint durch die Fenster auf die breiten, Behaglichkeit verströmenden Holzdielen. „Hier sitze ich immer, hier ist es am bequemsten“, sagt Andreas Schorlemmer. Zudem sei der Raum auch der wärmste im Haus. Es gibt Kaffee in antik anmutenden dunklen Tontassen. „Die Maschine ist kaputt“, erklärt er den Aufguss mit Kaffeesatz. Eigentlich sei der Raum ein Totenzimmer, sagt er und zeigt auf den Flügel in der Ecke, dorthin, wo bei Kriegsende Pastor Joachim Pfannschmidt von den Russen erschossen wurde. „Als wir herkamen, war das Haus in einem sehr reparaturbedürftigen Zustand.“ Es war wie jetzt Frühling, im Jahr 1975, als er mit seiner Frau in Groß Kiesow einzog. Im selben Jahr kam das erste Kind zur Welt, zwei weitere folgten in den anschließenden vier Jahren, mit dem Nachzügler 1988 waren es schließlich vier. „Wir lebten jahrelang wie auf einer Baustelle. Handwerker gingen ein und aus. Aber es war ein sehr glückliches Leben zwischen Dreck und vielen Kindern.“
Behütete Kindheit im Pfarrhaus
Nicht nur am Pfarrhaus war eine Menge zu tun: „Zweimal haben wir zu DDR-Zeiten die Groß Kiesower Kirche saniert, natürlich alles unter der Hand und in sozialistischen Verhältnissen. Kurz vor der Wende haben wir noch den Turm instandgesetzt, wofür uns örtliche Betriebe 25.000 Mark schenkten. Wir bekamen Kupfer und eine Kettensäge aus dem Westen, alles andere haben wir selbst gemacht, mit vielen Helfern aus dem Dorf.“ Er erinnert sich noch gut daran, wie Balken vom abgerissenen alten Gutshof wiederverwendet und per Hand und Seilzug auf den Turm gehievt wurden. Nach mehr als vier Jahrzehnten in Groß Kiesow ist Andreas Schorlemmer längst fest in der pommerschen Erde verwurzelt. Ursprünglich stammt er aus der Altmark in Sachsen-Anhalt. Im Jahr 1949 erblickte er in Herzfelde als Sohn eines Pastors das Licht der Welt. „Vor mir kamen schon drei und nach mir kamen noch drei“, beschreibt er lapidar den kinderreichen Haushalt des Elternhauses. „Als ich sechs Jahre alt war, wechselte mein Vater in die Pfarrstelle in Werben an der Elbe, nur etwa 15 Kilometer von meinem Geburtsort entfernt.“ Hier wuchs Andreas Schorlemmer auf und erlebte eine behütete Kindheit, ganz greifbar abgeschottet von der DDR-Gesellschaft durch das hoch ummauerte Anwesen rund um das Werbener Pfarrhaus. „Ich hatte immer das Gefühl, hier bist du sicher. Ich wuchs unter den schützenden Flügeln der Kirche auf.“
„Mein Vater war ein rotes Tuch“
Dieses Empfinden war angesichts der kirchenfeindlichen Verhältnisse nicht selbstverständlich. „Mein Vater war für die ein rotes Tuch.“ Die Abgrenzung zwischen „die und wir“ zählt zu den prägenden Erfahrungen seiner Jugend als Christ in der DDR. Es war abzusehen, dass seine Geschwister und er kaum eine Chance auf Abitur und Studium hatten. Sie suchten sich Nischen oder Alternativen, statt Ärztinnen zu werden, gingen seine Schwestern in die Krankenpflege. Was aber war die Alternative zum Pfarrberuf? Schon seit frühester Kindheit hatte Andreas Schorlemmer den Wunsch, dem Beruf seines Vaters zu folgen. „Ich kann mich erinnern, dass ich schon als Zehnjähriger meiner Schwester anvertraut hatte, dass ich Pastor werden will.“ Doch nach dem Abschluss der zehnten Klasse stand dieser Berufswunsch in weiter Ferne und er begann in den Rathenower Optikwerken eine Lehre zum Feinmechaniker. Mit 16 Jahren aus der Geborgenheit des Pfarrhauses in die kasernenartige Internatsatmosphäre in Rathenow zu kommen, war ein Kulturschock. „Wir standen dort rund um die Uhr unter Kontrolle. Die Spinde wurden kontrolliert, was wir lasen wurde kontrolliert, welche Briefe wir schrieben oder bekamen. Es gab auch einen Gong für die Schlafzeiten“, beschreibt Andreas Schorlemmer die beklemmende Atmosphäre.
NVA ließ keinen Raum für Zukunftsvisionen
Doch er hielt durch, wollte er doch, wenn es schon mit dem Theologiestudium nichts werden sollte, wenigstens Ingenieur werden. Doch am Ende der Ausbildung in den Optikwerken stand in seinem Facharbeiterzeugnis das Urteil: „Andreas Schorlemmer vertritt nicht den Standpunkt der Arbeiterklasse.“ Jahrzehnte später stellte er fest, dass der Nachtrag mit anderer Tinte geschrieben wurde. „Die wollten einfach einen Grund finden, um mir das Studium zu verbauen.“ Aus der Ingenieurslaufbahn wurde damit nichts. Die Armeezeit nahm ihm dann zunächst die Entscheidung für den weiteren beruflichen Werdegang ab. Mit schelmischem Lächeln schildert Andreas Schorlemmer die Reaktion der Offiziere im Wehrkreiskommando, als er ihnen eröffnete, seinen Wehrdienst ganz normal ableisten zu wollen. „Die waren regelrecht entsetzt. Die waren fest davon ausgegangen, dass einer wie ich ganz klar verweigern würde.“ Doch gerade diese Erwartungshaltung der Staatsmacht forderte seinen Widerstand heraus. „Ich wollte selbst entscheiden“, begründet Andreas Schorlemmer diesen Schritt. So kam er als Soldat der Luftstreitkräfte zur Luftüberwachung in die Nähe von Salzwedel. „Das war ein schlimmes Erleben“, fasst er seine Zeit bei der NVA zusammen. „Die Zeit war geprägt von Verzweiflung und Einsamkeit. Ich fühlte mich gefangen, es gab kein Entrinnen und keine Vision mehr von Zukunft.“ Viele Male habe er in Gedanken seine Flucht durchgespielt, den sogenannten bewaffneten Grenzdurchbruch erwogen, aber immer wieder verworfen.
„Es war, als stünde ein Krieg bevor“
In seine Armeezeit fielen auch die Ereignisse des „Prager Frühlings“, eine Zeit, die er besonders intensiv erinnert. Alle Einheiten waren permanent in Alarmbereitschaft. „Wir mussten bewaffnet und in Uniform schlafen. Und wir bekamen natürlich mit, wie auf westlicher Seite die Truppen Richtung Osten verlegt wurden.“ Besonders habe ihn erschüttert, wie die Soldaten von einer geradezu positiven Erregung erfasst wurden. „Es war so eine Stimmung, eine Erwartung, jetzt geht es los, als stünde ein Krieg unmittelbar bevor.“ Zum Ende seiner Armeezeit war ihm vor allem eins klar: „Ich wollte mein Leben auf keinen Fall an der Drehmaschine in irgendeiner Fabrik verbringen.“ Mit der Sonderreifeprüfung eröffnete sich ihm die Chance auf seinen Traumberuf Pastor. Die Sonderreifeprüfung bot in der DDR jungen Menschen aus Akademikerfamilien, denen das Studium zunächst untersagt worden war und die eine Berufsausbildung abgeschlossen hatten, die Möglichkeit, doch noch die akademische Laufbahn einzuschlagen. Die niedrigere Sprachhürde gab den Ausschlag dafür, dass es Andreas Schorlemmer nach Pommern zog: „Ich entschied mich für die theologische Fakultät in Greifswald, da dort nur das kleine Latinum verlangt wurde.“ Bei seinem ersten Eintreffen Ende 1969 in Greifswald war Andreas Schorlemmer noch Soldat und sorgte so für große Augen. „Ich kam damals in Uniform zur Uni.“ Ein NVA-Soldat an der theologischen Fakultät war ein Novum. Der Grund waren die restriktiven Urlaubs- und Ausgangsregelungen, die es NVA-Soldaten vorschrieben, auch außerhalb des Dienstes Uniform zu tragen.
Nur eine 3 in Marxismus-Leninismus
„Nach fünf Jahren Studium saß ich in meiner Studentenbude und wusste nicht wohin“, erzählt Andreas Schorlemmer. „Für eine Assistentenstelle an der Fakultät kam ich nicht infrage, die Uni hielt mich für untragbar, weil ich in Marxismus-Leninismus nur eine 3 hatte.“ Durch die Vermittlung des Konsistorialrats Dietrich Labs gelangte er auf die freie Pfarrstelle in Groß Kiesow, das ihm schließlich in vielen Jahrzehnten zur Heimat wurde. Anfangs sei die Gemeindearbeit „Learning by Doing“ gewesen. „Was macht man eigentlich als Pfarrer, fragte ich mich in den ersten Tagen.“ Ohne den Besuch des Predigerseminars fühlte er sich wie ins kalte Wasser geworfen. Doch dauerte es nicht lange, bis Andreas Schorlemmer in der Kirchengemeinde angekommen war. „Wir haben damals total vernetzt gelebt. Nicht nur mit den Menschen im Dorf, sondern auch mit der Pastorenschaft.“ Der große Bruch kam für ihn mit der Wende. „Es kam zu Auflösungserscheinungen. Die Entkonfessionalisierung war nicht aufzuhalten, obwohl wir so viel organisierten, große Veranstaltungen, wie zum Beispiel das Festival ‚Rock am Acker‘ mit berühmten Bands.“ Das Geld habe wohl auf viele unwiderstehlich gewirkt, meint er. Der alte Widerstand sei plötzlich weg gewesen. Auch seine Ehe überstand die Umbruchszeit nicht. Unterschiedliche Lebensentwürfe wurden deutlich, die in der neuen Zeit nicht mehr zusammenpassten. So habe die Wende alles umgewendet, das öffentliche Leben und das private. Die neue familiäre Situation wollte Andreas Schorlemmer der Gemeinde nicht zumuten, er suchte daher nach einem anderen Betätigungsfeld.
Als „Schwarzer Kommissar“ im Einsatz
Fündig wurde er 1998 mit dem Antritt der Stelle des Polizei- und Notfall-Seelsorgers für Mecklenburg-Vorpommern. „Damit begann noch einmal ein völlig neues Leben.“ Es wurde eine weitere Bruchstelle in seiner Biografie: Von der naturnahen Idylle des Pfarrhauses Groß Kiesow in die Polizeikaserne, „in ein Büro mit Linoleum und Betongeruch“, beschreibt er den Kontrast. Als „Schwarzer Kommissar“ habe er nicht evangelisieren und sich auch nicht einseitig den christlich geprägten Beamten aus dem Westen zuwenden wollen. Er sah sich vielmehr als Ansprechpartner für alle. In den folgenden Jahren baute er die Strukturen der Notfallseelsorge im ganzen Land mit auf. Es sei anfangs nicht leicht gewesen, viel Überzeugungsarbeit war nötig. „Ich war wie ein Prediger in der Wüste, sprach mit dem Innenminister, den Polizeidirektoren, den Landräten. Es war ein langer Weg. Der verheerende Unfall auf der A19 bei Rostock im Jahr 2011 war es schließlich, der zu einem Bewusstseinswandel beitrug. Die Notfallseelsorge wurde Teil des Brand- und Katastrophenschutzgesetzes“, erzählt Andreas Schorlemmer.
„Da habe ich begriffen, was Ostern bedeutet“
Im Jahr 2015 ging er in den Ruhestand. „Ich war davor 16 Jahre auf der Straße. Ich war in Gorleben dabei, ich war immer draußen, immer bei den Menschen. Mich kannten alle, alle kamen mit ihren Sorgen und Problemen zu mir.“ Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, er setzte sich ins Auto und fuhr los. Dabei habe er viel gesehen, viel Schreckliches war dabei. „Ich habe alle Arten gesehen, auf die ein Mensch sterben kann. Unfälle, Mord, Suizid.“ Zudem habe er zahllose Todesnachrichten überbracht. Er erzählt von diesen Momenten, von dem Jungen, der tot im Graben lag… „Ich habe Vertrauen gelernt“, sagt er auf die Frage, was diese Erlebnisse mit seinem Glauben gemacht haben. „Vertrauen ist die Brücke, über die alles gehen muss, über die es nur gehen kann. Dieses Vertrauen war für mich das Fundament. Du kommst da hin zu den Eltern und sagst das. Und du weißt, dass dann das ganze Leben hin ist, alles zerbricht. Aber wenn ich dann wieder gehe, weiß ich, ich habe sie auf den Weg gebracht, sie nicht allein gelassen.“ Unter dem Titel „Manchmal hilft nur Schweigen“ hat er ein Buch geschrieben, in denen er versucht, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Er erinnert sich an eine Trauernde, die nach der Todesnachricht so unvorstellbar schrie. „Das lässt mich nicht mehr los“, sagt er kopfschüttelnd. „Und danach kam ich nach Hause in dieses volle, frohe Haus. Ich kam aus dieser Todesnacht und fuhr von Westen kommend in die aufgehende Sonne. Da habe ich so richtig begriffen, was Ostern bedeutet.“
Wände hängen voller Kunstwerke
Heute ist Andreas Schorlemmer ehrenamtlich Vorsitzender der Psychosozialen Notfallversorgung in M-V und gestaltet noch immer aktiv das Leben der Groß Kiesower Kirchengemeinde mit. Aber es ist ruhiger geworden in dem alten Pfarrhaus, dessen Wände voller Kunstwerke sind, sämtlich Originale des bedeutenden Malers Horst Leifer. „Es kommt keiner mit Kuchen“, sagt Andreas Schorlemmer ironisch und erzählt von seiner Krebsdiagnose, die ihn vor eineinhalb Jahren unverhofft traf. „Ich habe so viele Jahre überlegt, wie redet man mit Betroffenen. Aber wie redet man als Kranker mit Gesunden?“ Man werde eingeordnet, hat er erfahren. „Das ist ja furchtbar, sagen die Leute. Aber ich fühle mich nicht furchtbar. Ja, ich mache neue Erfahrungen. Ich möchte aber nicht über die Krankheit definiert und als Patient kategorisiert werden.“ Man müsse darüber reden können, ist er überzeugt und möchte zur Sprachfähigkeit ermutigen. Diese lebensbejahende Einstellung spiegelt auch seine Gewohnheit wider, jeden Tag ein Foto zu machen und es auf seinem Facebook-Profil zu posten, verbunden mit Bibelversen. So ist zum Beispiel über dem Schwarzweiß-Foto eines Gehwegs folgende Zeile aus dem 121. Psalm zu lesen: „Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht…“
Quelle: PEK (sk)