Tilo Zocher im Gespräch "Täter sind Konfliktvermeider"
Interview: Annette Klinkhardt
25.11.2024 · Greifswald. Tilo Zocher ist Sozialpädagoge und Sozialarbeiter. Er arbeitet beim Kreisdiakonischen Werk Greifswald. Seit 15 Jahren berät er Männer und Frauen, die gewalttätig gegenüber ihren Partnern oder Kindern sind. Dafür hat er sich zum Tätertherapeuten, Gewaltberater, Gewaltpädagogen und Paarberater weitergebildet. Zum heutigen Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen haben wir mit Tilo Zocher gesprochen (im Interview wird die Form „Täter“ verwendet, da Gewalt in einer Partnerschaft überwiegend von Männern ausgeht):
Wie finden Menschen zu Ihnen?
Man muss bei den Tätern unterscheiden zwischen einem kleinen Hellfeld und einem sehr großen Dunkelfeld. Zum Hellfeld gehören alle, die sichtbar geworden sind über Polizei, Justiz oder das Jugendamt. Wenn das Hellfeld aktiv wird, sprich das Jugendamt oder die Polizei, dann bekommen sie in der Regel eine Anzeige und erhalten einen Hinweis auf unsere Beratungsstelle.
Weitaus mehr Menschen agieren im Dunkelfeld. Sie stehen in einem Gewaltkreislauf, und es gibt nur ein ganz kleines Zeitfenster, in dem sie motiviert sind und wir sie erreichen können. Wenn jemand anruft und sagt, ich habe meine Frau geschlagen, dann mache ich schnellstmöglich einen Termin.
Was meinen Sie mit Gewaltkreislauf?
Da ist zunächst die Gewalttat. Die Täter sind erst einmal erleichtert, weil der ganze Druck weg ist. Nach dieser Erleichterung kommt dann aber relativ schnell ein großes Erschrecken darüber, die Frau geschlagen zu haben. Den Täter überwältigen Schamgefühle und er bekommt Angst, seine Frau, seine Familie zu verlieren. Das ist das Zeitfenster, in dem diese Männer nach Hilfe suchen. Oder sie versuchen eine Entschuldigung, kaufen Blumen und Geschenke und damit dreht sich der Gewaltkreislauf weiter.
Danach kommt die Phase, in der sie die Verantwortung für ihr Handeln abgeben und im Außen nach Gründen suchen. Sie wollen rational erfassen, warum schon wieder etwas passiert ist, schauen aber nicht auf sich. Stattdessen höre ich hier so Sätze wie ‚Meine Frau hat‘s verdient, sie hat mich provoziert‘ oder ‚Meine Kinder nerven so‘.
Da findet also eine Umkehr statt: Die Frau macht sich zum Täter, etwa weil sie den Kaffee falsch gekocht hat oder die Kinder zu laut waren. Der Täter macht sich zum Opfer. Die Frau wird zunehmend eingeschüchtert. Egal was sie macht, es reicht nicht. Und dann wird ein Mantel des Schweigens darübergelegt, der Mann macht Geschenke, versichert, dass es nicht wieder passieren wird. Was genau die Garantie dafür ist, dass es wieder passiert.
Wie können Sie in Ihrer Beratung diesen Kreislauf der Gewalt unterbrechen?
Wir machen ihm ganz klar, dass er die Verantwortung übernehmen muss. Oft heißt es, mir ist ja nur die Hand ausgerutscht. Wir sagen dagegen ganz klar: Du bist der Täter, und du hast geschlagen.
Dann erarbeiten wir gemeinsam einen Notfallplan für die nächste Zeit: Die Männer brauchen etwas, um die Gewalt in dem Moment erst einmal unterbinden zu können. Das geht über den Körper: Was merkst du, wie reagiert dein Körper? Etwa, der Kiefer bewegt sich, der Hals wird dick. Ich komme jetzt in die gelbe Phase, und wenn ich hierbleibe, in die rote Phase, und wenn ich da drin bleibe, werde ich gewalttätig. Also geht es dann um die Entscheidung, ganz konkret Verantwortung zu übernehmen: Jetzt gehe ich hier raus und verlasse die Situation.
Viele Männer gehen dann ins Hotel, die haben sich einen Koffer gepackt, den sie nur greifen müssen. Ich kann auch sagen, ich geh jetzt los, sonst fang ich an gewalttätig zu werden, dann ist es auch für den Partner klar. Wir reden hier nicht über eine halbe Stunde, das wird nicht funktionieren, weil die Emotion noch sehr heiß ist.
Welche Feedbacks erhalten Sie von Männern, die das erste Mal so aus der Situation gegangen sind?
Stolz. Ganz viel Freude und Stolz. Sie waren handlungsfähig. Und das ist der Punkt. Sie kriegen von uns etwas in die Hand, mit dem sie auch umgehen können.
Und deswegen ist es so wichtig, dass wir sie in den ersten Stunden gut begleiten, gerade bei sehr aktiven Gewalttätern mache ich auch ganz kurzfristig Termine. Manche sehen wir zweimal, manche auch dreimal in der Woche, weil das so brennt für sie, weil sie so unsicher sind. Die meisten Täter haben Angst, in der Öffentlichkeit bloßgestellt zu werden. Keiner ist stolz auf sein Tun. Diese Männer sind froh, dass da jemand ist, der sie nicht verurteilt. Das heißt aber nicht, dass wir mit ihnen Kaffee trinken, sondern gerade in der ersten Phase sind wir sehr konfrontativ. Täter sind ja bemüht, zu ergründen, warum sie schon wieder ihre Frau schlagen, das tun sie in ihrer Verzweiflung. Sie schauen dabei aber leider nicht zu sich, sondern auf die Kinder, auf die Frau. `Meine Frau hat sich falsch verhalten, deswegen bin ich ausgerastet‘. Und hier schauen wir genau hin und sagen: Du hast geschlagen. Dann heißt es, ja, das war im Affekt. Es gibt keinen Affekt. Wenn ich meine Frau schlage, muss ich meine Hand ausführen und das ist bewusstes Handeln.
Wie entsteht denn überhaupt die Gewalt, wo könnte man im Vorfeld bereits ansetzen?
Gewalt hat immer eine lange Vorgeschichte. Täter sind in aller Regel aggressionsgehemmt, sie haben wenig Zugang zu ihren Aggressionen, und deswegen sammeln sie alles an und irgendwann kommt das raus.
Hier sitzen Menschen in hohen Funktionen. Mit viel Verantwortung, mit vielen Herausforderungen. Für die war es ein ganz normaler Tag, der gehört zu einem Männerleben dazu, und wenn wir genauer gucken, wie war der Tag, dann stellt er fest, ich war ganz schön erschöpft. Mit dieser Erschöpfung kommen sie dann nach Hause, es gibt kein Auftanken, keine Selbstfürsorge. Frauen können das meist besser: Wenn sie in einer Krise sind oder Konflikte haben, telefonieren sie mit ihrer Freundin, gehen shoppen und machen Sachen, die sie entlasten. Dinge, die für mich als Mann früher unvorstellbar waren. Heute sage ich, toll, die kommen wesentlich entspannter zurück. Täter machen nichts, Täter halten das aus.
Es gibt ganz viele Männer, die sagen, ich kann doch meiner Frau nicht sagen, dass ich so unsicher bin, dann bin ich nichts mehr wert. Diese Menschen lieben ihre Familie und zerstören das, was sie am meisten lieben, mit Gewalt. Männer haben gelernt, jahrzehntelang auszuhalten. Wenn ich jeden Tag in so ein Fass Ärger, Wut und Misserfolge oben reinpacke, ist es eine Frage der Zeit, wann das Fass voll ist. Dann schreit vielleicht das Kind den Vater an oder die Frau hat sich seiner Meinung nach falsch verhalten und diese ganze Ladung Wut bricht aus.
In unserer Beratung bringen wir den Täter mit seinen Gefühlen ín Kontakt. Was habe ich gemerkt? Wie erging es mir in der Situation? Täter kommen in Berührung damit, was sie jahrelang oder jahrzehntelang gelernt haben, wegzudrücken.
Heute immer noch?
Immer noch, massiv. Klar gibt es inzwischen eine Tendenz dahin, dass Männer bereit sind, zu fühlen. Aber da sind noch Welten dazwischen, überhaupt mal ein Gespür zu kriegen, wie es einem geht.
Für einen Täter ist es so, als ob man so einen Schalter umlegt, dann ist er gewalttätig. Er merkt es nicht im Vorfeld, dass es bedrohlich wird. Sie merken so einen Riesendruck, aber sie können es nicht verorten, ist das eine Angst, eine Unsicherheit, oder ich fühle mich überfordert.
Menschen werden gewalttätig, weil sie nicht aggressiv sein können?
Aggressionen brauchen wir, um eine Grenze, eine Befindlichkeit klarzumachen. Gewalt bedeutet, eine Grenze zu übertreten. Gewalt fängt an, wenn ich die Grenze eines anderen verletze mit Bedrohung, mit Beleidigungen.
Aggression ist genau das Gegenteil: Aggression dient dazu, eine Grenze sichtbar zu machen und zu halten. Es ist eine Handlungsenergie. Die Medien sprechen oft von einem „aggressiven Täter“, den gibt es nicht. Täter sind in sich gekehrt, das sind Menschen, die sind nicht aufgefallen im Leben. Null Aggression. Alle Täter sind Konfliktvermeider in der Paarbeziehung. Auch oft in der Außenwelt: Sie sagen Ja, obwohl sie Nein meinen. Das ist verheerend, weil die Aggressionen, die sie da schlucken, sich ein Ventil suchen. Die Konsequenz ist Gewalt. Nichtgelebte Aggressionen bedeutet in der Folge, dass ich mit einer Täterstruktur gewalttätig werde.
Was brauchen wir, damit ein Junge gerne Mann werden will?
Es braucht ein Gegenüber, das echt ist. Jungen sind auf der Suche nach Vorbildern, nach einer Männlichkeit, die Orientierung gibt. Sie brauchen einen Vater, der auch über sich reden kann, nicht nur den großen Macher, sondern einen, der sagen kann, ich bin gerade traurig, ich brauche eine Pause.
Kritisch sehe ich eine gewisse Tendenz, sofort Diagnosen zu stellen. Jungen stellen über den Körper Kontakt her. Die wollen toben, die wollen raufen. Für Mädchen ist das eine andere Geschichte. Sie erzählen von ihren Erlebnissen und ihren Gefühlen. Wenn wir Jungen in ihrer Körperlichkeit unterbinden, weil wir dieses Verhalten bewerten, macht es das Jungen schwer, zu ihren Gefühlen zu stehen.
Wie sieht es überhaupt aus mit Präventionsarbeit?
Zocher: Leider ist uns das aktuell nur begrenzt möglich. Mit 1,5 Stellen versorgen wir hier im Kreisdiakonischen Werk ganz Mecklenburg-Vorpommern. Wir benötigen dringend eine ausfinanzierte Täterarbeit! Nur so schaffen wir Planungssicherheit für den Träger und im Weiteren die Ausweitung der Täterarbeit in Mecklenburg-Vorpommern. Prävention wäre ein wichtiger Teil unserer Aufgabe, den wir aber gerade nicht im erforderlichem Maß leisten können. Die Gewaltberatung hat Priorität.
Quelle: Bischofskanzlei Greifswald (ak)