Zahlreiche Zeitzeugen erzählen Im Visier der Stasi: Die Evangelische Studentengemeinde Greifswald

Klaus Bürger und weitere Zeitzeugen berichteten im soziokulturelle Zentrum St. Spiritus in Greifswald..

Foto: A. Klinkhardt

28.02.2025 · Greifswald. Als „Wohnzimmer der Greifswalder Studentinnen und Studenten und damit im Visier der Stasi“ – so beschreibt Bischof Tilman Jeremias die Evangelische Studentengemeinde (ESG) in der DDR-Zeit. Zu einer Buchvorstellung zur Geschichte dieser Studentengemeinde hatte der Landesbeauftragte für MV für die Aufarbeitung der SED-Diktatur Burkhard Bley in das soziokulturelle Zentrum St. Spiritus in Greifswald eingeladen.

Zahlreiche Zeitzeugen berichteten von ihren prägenden Erinnerungen an die Zeit in der Greifswalder ESG, darunter auch die beiden ehemaligen Studentenpastoren Walther Bindemann und Reinhard Glöckner. Anwesend war auch die Witwe des 2017 verstorbenen Wolfgang Gräfe, der akribisch zur Überwachung der ESG in den Akten geforscht hatte.

 

ESG war kultureller und subkultureller Mittelpunkt Greifswalds

 

Der Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche sagte in seinem Grußwort: „Die Greifswalder Evangelische Studentengemeinde war zu DDR-Zeiten ein Ort, an dem Freiheit gelebt werden konnte, die Freiheit der Rede und des Denkens. Für Greifswald stellte die ESG damit einen besonderen Ort dar, nämlich den kulturellen und subkulturellen Mittelpunkt der Stadt. Es gab hochkarätige Lesungen von Heiner Müller, Stephan Hermlin und Lutz Rathenow und ein Austauschprogramm mit skandinavischen, niederländischen und westdeutschen Studentengemeinden.“

 

ESG-Räume direkt gegenüber der Stasi-Zentral

 

Jeremias fuhr fort: „Unter dem Dach der Kirche begegneten sich traditionell geprägte Christen und Menschen, die die Wohnzimmeratmosphäre und das Angebot lockte. Die Studentengemeinde stand im besonderen Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit, das mit verschiedenen Aktionen Unfrieden säen wollte, um die in ihren Augen ‚feindlich-negativen‘ Tendenzen zu ersticken.“ Die ESG hatte ihre Räume im Turm der Jacobikirche in der Greifswalder Domstraße – direkt gegenüber von der Zentrale der Stasi und damit für die Mitarbeitenden des Ministeriums für Staatssicherheit ein äußerst präsenter Dorn im Auge.

 

Die ESG verwanzt von der Stasi

 

Historiker und Autor Christoph Wunnicke erzählte: „Die Stasi verpflanzte 1962 einen Sender in den Räumen der Studentengemeinde, den die Mitarbeiter ein paar Meter gegenüber problemlos abhören konnten. Dass diese Wanze ein knappes Jahr später gefunden wurde, war Zufall: Auf der Suche nach Schlagermusik auf einem UKW-Radio hörten ESG-Studenten in der Teeküche auf einmal Flötenmusik – von zwei Studenten, die gerade im Turmsaal probten. Dazu die deutlich gesprochenen Worte ihrer Kommilitonen ‚Das müssen wir noch mal üben!‘“ Damit sei klar gewesen, dass es einen Abhörsender geben musste, der über die gerade eingestellte Wellenlänge sendete.

 

Historiker Christoph Wunnicke führt Recherche von Wolfgang Gräfe fort

 

Nur eine von vielen Geschichten rund um die Evangelische Studentengemeinde Greifswald, die Christoph Wunnicke in dem vom Landesbeauftragten herausgegebene Band vorstellt. Der Titel: „Die Geschichte der Greifswalder Studentengemeinde Greifswald in der DDR-Zeit. ‚Gegenuniversität und Beobachtungsobjekt des Staatssicherheitsdienstes“. Der Historiker hat dazu die Recherchen Wolfgang Gräfes weitergeführt. Als Student engagierte sich der Chemiker Gräfe in der ESG Greifswald und erlebte die Überwachung durch die Stasi. Nach seiner Pensionierung sammelte er akribisch Material, um vom Alltag in der Diktatur zu berichten.

 

ESG-Geschichte hat Zeug zum Krimi

 

Christoph Wunnicke fasste zusammen: „Die Geschichte der ESG Greifswald zu DDR-Zeiten ist eine internationale, deutsch-deutsche und vor allem regionale Gemeinschaftsgeschichte – mitunter auch eine Kriminalgeschichte.“

 

Klaus Bürger, zu DDR-Zeiten in der ESG Greifswald, meinte in einer Wortmeldung: „Die Evangelische Studentengemeinde Greifswald hatte ein sehr hohes Niveau, wir hatten großartige theologische und philosophische Gespräche.“ Allerdings wollte er dem Untertitel des Buchs widersprechen: „Die Studentengemeinde war keine ‚Gegenuniversität‘, für uns war sie eher eine zweite Universität. Hier ergänzten wir unsere Bildung um das, was wir offiziell nicht lernen durften.“

 

„Das muss ich mit dem Studentenpfarrer meiner Tochter besprechen“

 

Christine Bringt, in den 1960er Jahren Dramaturgieassistentin am Greifswalder Theater, fand ihre geistige Heimat in der ESG. Sie erzählte: „Uns allen war bewusst, dass wir überwacht wurden. Der damalige Studentenpfarrer hat uns eingeimpft, dass wir im Falle einer Anwerbung als IM sagen sollten: ‚Das muss ich mit meinem Studentenpfarrer besprechen.‘“ Damit wäre die Konspiration aufgehoben gewesen. Sogar ihr Vater habe bei einem Anwerbeversuch der Stasi, die ihn unter Druck zu setzen versuchte, entgegnet: „Das muss ich mit dem Studentenpfarrer meiner Tochter besprechen.“

 

Geistig frei geblieben

 

Ein ehemaliger Greifswalder ESG-ler erzählte: „Wir hatten beschlossen, uns von der Stasi nicht zu sehr beeinträchtigen zu lassen. Sonst hätten wir argwöhnisch gegenüber allen werden müssen – dann wäre die ESG aber nicht mehr dieselbe geblieben. Nach 1989 hofften wir, dass wir nur abgeschöpft worden waren, aber nicht an der langen Leine geführt worden waren. Das hat sich zum Glück bewahrheitet: Die geistige Freiheit war echt gewesen.“

 

Klaus-Dieter Kaiser, ehemaliger Akademiedirektor der Nordkirche und zur Wendezeit als Generalsekretär der Evangelischen Studentengemeinden im Osten für das Zusammenwachsen mit den Gemeinden im Westen mitverantwortlich, sagte: „Die Greifswalder ESG war auch eine Schule der Demokratie. Als Vertrauensstudent trug man echte Verantwortung. Das schaffte auch Selbstbewusstsein.“

 

Kinderstube der Demokratie

 

Dem pflichtete Walther Bindemann bei, von 1974 bis 1980 Studentenpfarrer in Greifswald. Er betonte: „Die ESG war für uns die Kinderstube der Demokratie. Hier lernten wir das Gespräch als demokratisches Medium schätzen. Das ist ganz aktuell, wenn man sich die Parteiendemokratie ansieht.“

 

In einem Aspekt hätte sich die Greifswalder ESG von manchen Studentengemeinden im Westen unterschieden: „Wir haben uns als ESG immer als Bestandteil von Kirche gefühlt. Das war im Verhältnis zum Staat sehr wichtig. Dagegen haben manche Studentengemeinden im Westen die Kirche abgelehnt, in Hamburg nahezu verteufelt.“ Zu seiner Zeit seien neben den Partnerbeziehungen in den Westen auch eine Partnerschaft ins polnische Szczecin (Stettin) entstanden. „Dadurch bekamen wir hautnah mit, wie in Polen einiges in Bewegung kam.“

 

Info

 

Wolfgang Gräfe / Christoph Wunnicke: Die Geschichte der Evangelischen Studentengemeinde Greifswald in der DDR-Zeit. „Gegenuniversität“ und Beobachtungsobjekt des Staatssicherheitsdienstes.

ISBN 978-3-933255-71-6. Schutzgebühr 6 Euro.

 

Das Buch kann am einfachsten bezogen werden bei folgender Adresse:

 

Der Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern

für die Aufarbeitung der SED-Diktatur

Bleicherufer 7

19053 Schwerin

 

E-Mail: post@lamv.mv-regierung.de

Telefon: 0385 734 006

Quelle: Bischofskanzlei Greifswald (bb/akl)